Huldigung an das freie Denken

Seit Tagen kreisen meine Überlegungen über das Thema „freiwillig versus unfreiwillig“, wobei ich resümierte, dass ich in meinem Leben zu viele Dinge nur widerwillig/unfreiwillig ausführte. Genaugenommen fing es mit meiner Geburt an. Ich werfe meinen Eltern die Zeugung meiner Wenigkeit nicht vor. Die Fortpflanzung steht nun mal im Mittelpunkt des Systems Leben/Natur. Man wird als kleines Etwas ins Leben geworfen, ob man will oder nicht. Leider mündet die Geburt in eine ganze Kette unfreiwilliger Mühsal – so da wären: Kindergarten, Schule, Konfirmation oder Kommunion, Wehrdienst, Berufsausbildung, die Maloche zum Geldverdienst, Weiterbildungen, Workshops, Steuererklärungen… Und daneben noch so manche ungeliebte private Verpflichtung. Bei mir waren das vor allem Familienfeste wie Weihnachten. Was muss man im Leben nicht alles machen, nur um leben zu dürfen – nicht zu darben und auch sonst keinen größeren Mangel zu erfahren. Nicht mal der Tod ist freiwillig, weil normalerweise niemand sterben will.
Kein Tier würde solcherlei Überlegungen anstellen. Tiere fügen sich wortlos in ihr Schicksal. Sie stellen keine Fragen nach Freiheit und Gerechtigkeit. Ganz anders der Mensch. Ich meine den denkenden. Allein die Gedanken sind frei…, vorausgesetzt ich nehme diese Freiheit wahr. Viele meiner Mitmenschen scheinen sich mit dem Reproduzieren vorgesetzter Gedankengänge und Meinungen zufriedenzugeben. Die Gedankenfreiheit kommt erst richtig bei einem geistig weiten Horizont zur Geltung. Große Denker zeichnen sich dadurch aus, dass sie über den Tellerrand hinaus schauen. Dazu gehört das Sticheln mit provokativen Thesen und stets das Hinterfragen des gemeinhin Üblichen.
Warum ich die Kette unfreiwilliger Mühsal bis heute ertrug, hängt zu einem guten Teil an der Freude am eigenen Denken und dessen kreativen Ausdrucks in Sprache und Bild. Hinzu kommt das lustvolle Erfühlen des Daseins mit seinen Innen- und Außenräumen. Ich lebe, weil ich denken kann. Die Liebe wurde mir oft genommen, und ich überlebte es, aber würde man mir das Denken nehmen, ich wäre tot.

 

12 Gedanken zu “Huldigung an das freie Denken

      • braucht es immer einen chef? es gibt meines erachtens lediglich ein sprachrohr, so was wie ein vertreter, der das konstrukt nach außen hin (auch nach innen) vertritt. also „ich“. ansonsten gibt es eine „organisation“, welche mich als lebewesen funktionieren lässt im zusammenhang mit anderen strukturen, welche sich alle fraktal durchdringen.

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  1. kommt mir so vor, als ob der Text von mir geschrieben wäre.
    Bei mir fing die Verweigerung schon im Kindergarten an. Da war ich nur 2-3x, heulte und schrie und stampfte dann wohl zuhause mit dem Fuß auf und rief, dass ich da nicht mehr hingehe. Ich muss sehr eindrucksvoll aufgetreten sein..

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      • Hm. Das ist nicht schön. Das hatte ich glücklicherweise nicht. Bei mir war eine andere Familienkonstellation, meine Mutter eine Rebellin, bei der ich gelernt habe, immer nach dem „Warum“ zu fragen und wie der „andere Weg“ ist, mein Vater so gut wie nicht anwesend. Jetzt sage ich, gut, dass es so war. Aber..wie bei dir, Familienfeste fand ich und finde sie immer noch hauptsächlich grausig. Verstehe nicht, warum man sich so etwas antut. Antun muss.

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      • es ist nicht einfach, sich gegen gesellschaftliche konventionen aufzulehnen – kann einsam machen.
        ich war der einzige rebell in der familie. keine ahnung, woher ich das hatte. ich nehme an von mir. darum bin ich gewissermaßen immer noch ein rebell, weil es einfach in mir steckt. viele waren nur solange rebellisch, wie der zeitgeist danach war. damals die 68er und die friedensbewegung der 80er.

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      • kann, muss aber nicht einsam machen. Es gibt immer Gleichgesinnte, man muss sie nur finden. Wichtig ist, das Denken nicht anderen zu überlassen und sich eine eigene Meinung bilden, wenn möglich auch danach leben. Rückgrat zeigen, über den Teller hinaussehen. Hügel und Berge erklimmen, auch wenn es anstrengend ist. Mal etwas neues ausprobieren, auch wenn man nicht weiß wie es ausgeht.

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