Nachtwache

Als ich als Zivi mit der Altenpflege anfing, war ich 26. Mein Leben lag vor mir. Auch wenn ich keine blasse Idee hatte. Wenigstens hatte ich einen Job, in dem ich relativ flexibel arbeiten konnte, Teilzeit oder im Nachtdienst. Der bot sich prima als Brotverdienst neben dem Studium an. All die Jahre während meiner Kneipensumpfzeit war mir jedoch klar, dass das mit dem Studieren nichts werden würde. Mit Mitte Dreißig riss ich schließlich das Ruder herum. Also wenigstens um ein paar Grad. Ich hatte die Möglichkeit, berufsbegleitend eine dreijährige Ausbildung zum Exam. Altenpfleger zu machen. Die zog ich im Gegensatz zu den diversen Studiengängen dann auch durch.
Die Altenpflege war der Job meines Lebens. Was ich während dieser fast drei Jahrzehnte in den Pflegeheimen sah und erlebte, passt auf keine Kuhhaut. Immer schon setzte ich mich grundsätzlich mit dem Altern, dem Sterben und Tod auseinander. Ich dachte als junger Mann, dass mich die praxisnahe Beschäftigung mit diesen gewaltigen Themen weiterbrächte – weiter auf meiner Sinnsuche und der Entschleierung des Mysteriums Dasein. Resümierend muss ich erkennen, dass dem nicht so war. Ich war zwar nah dran, aber die Mauer des Unverständnisses und Fremdheitsgefühls gegenüber der Welt, in die ich hineingeboren wurde, blieb unüberwindbar.
Ich war oft überfordert von der Wirklichkeit in der Pflege, den Anforderungen und der Verantwortung… Letztlich war es der menschliche Kontakt zu den Alten, der mich demütig machte und motivierte. Ich lebte mit den Alten zusammen in einer Art Parallelwelt, vor allem während meiner Nachtdienste. In klaren Nächten blickte ich oft in den Sternenhimmel, während die mir Schutzbefohlenen in ihren Zimmern schlummerten. Leider schlummerten sie nicht immer…
Ich windelte sie zweimal in der Nacht. Einige musste ich aus den Betten holen und umziehen. Die Toilettenstühle waren anfangs noch hölzern und stanken nach Urin. Es war Akkordarbeit. Ein Knochenjob. Es gab Kollegen und Kolleginnen, die dabei brutal vorgingen. Die Alten hatten keine Chance. Ich wollte das nicht… Viel zu oft machte ich mich mitschuldig. Ich dachte: So ähnlich müssen sich Soldaten im Krieg fühlen. Sie werden zu Handlungen gezwungen, die sie eigentlich nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Fuck! Ich hatte den Kriegsdienst verweigert und fand mich plötzlich an einem zivilen Kriegsschauplatz wieder…
Seit dreißig Jahren verfolge ich die Diskussionen über den Pflegenotstand in den Medien. Mir wird übel. Ich blickte hinter die Kulissen und sah den Horror, die dunklen Seiten menschlichen Wirkens, den Abgrund, die Lügen und die Selbstherrlichkeit. Ich war dabei.

 

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48 cm x 62 cm, Aquarell, ca. 1990

 

Noch 10 Jahre

Von Wochenende zu Wochenende hangeln, Tumorfälle dokumentieren bis zum Abwinken. Niemals in meinem Leben dachte ich, dass ich mal am Computer arbeiten werde und medizinische Daten in eine spezielle Software reinkloppe. Ebenso wie ich mir damals als frisch gebackener Technischer Zeichner nicht vorstellen konnte, mal als Arschwischmaschine in der Altenpflege zu schuften. Auch Technischer Zeichner wollte ich nur bedingt werden. Als Schüler hatte ich hinsichtlich eines Studiengangs oder einer Berufsausbildung null Idee. Aber ich musste irgendeinen Käs auswählen. Die Devise hieß: Weitermachen! Nicht zu lange auf der faulen Haut liegen. Die Eltern waren froh, als ich den Ausbildungsplatz bekam, und ich freute mich über mein erstes selbstverdientes Geld – nein, stimmt nicht ganz: Ich fuhr in der Oberstufe ein paar Monate Zeitungen aus. War `ne coole Sache: Ich stand früh morgens vor Schulbeginn auf, setzte mich auf meine Kreidler und gurkte durchs Psychiatriegelände. Das lag nur wenige hundert Meter vom Elternhaus entfernt und thronte über der Kleinstadt, ein riesiger Irrgarten für sich. Ich brauchte eine Weile, bis ich die Wege draufhatte.
Eine rasante Zeit damals. Ständig standen neue Dinge an. Im Rückblick wundere ich mich darüber, wie dicht gepackt mein Leben in dieser Phase war. Keine Ahnung, wie ich Technischer Zeichner wurde. Die Arbeit interessierte mich nicht sonderlich. Wichtig war für mich, dass ich den Bund rausschieben konnte und was vorzuweisen hatte, wenn ich gefragt wurde: „Yeah, ich mach `ne Ausbildung zum Technischen Zeichner, Heizungsbau, Sanitär…; – total geil! Vor allem die weiblichen Stifte machen eine klasse Figur am Zeichenbrett – haha!“
Es war für mich nie besonders wichtig, was ich machte, sondern nur, dass ich überhaupt in Lohn und Brot war, um in dieser Drecksleistungsgesellschaft nicht unterzugehen. Ich wurschtelte mich so durch. Meine Leidenschaft lebte ich in der Kneipe und/oder in der Liebe aus. Dann und wann auch im Verfassen dichterischer Ergüsse. Oder ich kleckerte eine Leinwand mit Farbe voll. Mir gefiel es, aber mit den Jahren wurde mir klar, dass es nicht zum Künstler reichen würde. Ich besaß weder den Ehrgeiz noch die Begabung – jedenfalls zu wenig davon, um mit dem, was ich produzierte, groß rauszukommen. Aber träumen darf man ja. Wenn ich den Begriff nicht total abstoßend fände, würde ich mich heute Hobbykünstler nennen.
Den Bund konnte ich nicht ewig vor mir herschieben. Als die Ausmusterung nicht klappte, blieb nur die Verweigerung. Und so begann über den Zivildienst meine zweite und längste berufliche Laufbahn. Dreißig Jahre malochte ich in der Altenpflege. Auch wenn ich mir diese Tätigkeit für meinen Zivildienst bewusst ausgesucht hatte, hätte ich doch nie gedacht, in dem Job solange auszuharren. Aber offenbar passte er ganz gut auf mich. Das erste Mal hatte ich wirklich das Gefühl, was Sinnvolles zu tun. Nur leider bei miserablen Arbeitsbedingungen. Und ich erlebte Sachen, die mich schockierten und nachhaltig frustrierten. Das beste an dieser Arbeit waren die menschlichen Kontakte zu den Alten. Durch sie sah ich in die Zukunft. Es ging um die Nacktheit der menschlichen Seele… Ich erlebte unmittelbar Sterben und Tod…, die Brutalität des Siechtums…, demgegenüber die Brutalität unseres Wegschauens. Viel zu oft fühlte ich mich in meinem Beruf verloren und ohnmächtig. Gerade in meinen letzten Jahren als Nachtwache. Psychisch war ich permanent überfordert mit dem Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ich hatte die Schnauze voll von den Lügen. Ich wollte nicht mehr.
Und wieder ging es ums Weitermachen. Die Gesellschaft gönnt keinem eine längere Auszeit. Das Arbeitsamt sitzt dir sofort im Nacken. Es geht in dieser Hinsicht nie ums Wollen, sondern ums Müssen. Ich beneide Menschen, die wirklich für sich wollen, was sie müssen.
Okay, hier sitze ich also in der Gegenwart als Tumordokumentar. Geile Sache das. Vor allem die Bürohühner, – wenn ich die nicht hätte, wäre ich längst verzweifelt. Ich liebe ihr Gackern und Lachen… Fast vermisse ich sie in der Einsamkeit meiner Wochenenden.