Brasko und der Engel (6)

Ein Tag ist ein Tropfen im Ozean der Zeit. Gott weiß das, weil er das Meer des Daseins in seiner Gesamtheit vor Augen hat. Wir Menschen dagegen leben in einem irren Phantomschmerz. Wir verlieren uns in den Einzelteilen. Das Bewusstsein wurde zur Falle. Wir landeten im Größenwahn und glauben, es Gott gleichtun zu können. Dabei wissen wir im Grunde gar nichts. Die Welt gehört uns nicht. Es gibt nichts zu erobern. Die Welt gehört nicht mal Gott. Er verwaltet sie lediglich.

„O Herr, bist du zufrieden mit mir?“ Bibi lächelte und schmiegte sich an meine Schulter.
„Für dich Mr. Brasko“, sagte ich und umarmte sie, „ich bin hochzufrieden, Bibi…, aber setze dich bitte nie weder als transparentes Lichtwesen auf meine Couch.“
„Hihi, ich erscheine in der Form, die dir genehm ist, O Herr, äh, Mr. Brasko.“
Ich drückte sie fest an mich und küsste ihren kleinen Engelmund.
„Aber Mr. Brasko… Ooooh!“

Mein Leben befand sich in der totalen Flaute. Mannschaft und Kapitän waren dauerbesoffen, und der Matrose im Ausguck litt längst an Depressionen. Ich hatte eigentlich nichts zu verlieren…
Als Birgit bzw. Bibi mir die Wahrheit über ihren göttlichen Auftrag eröffnete, wollte ich ihr natürlich nicht glauben. Bestimmt befand ich mich im falschen Film – falscher Kinosaal. Kann schon mal passieren, dass man aus Versehen in einer Paralleldimension landet. Nun gibt es Situationen, wo man zwar nach wie vor zweifelt, aber schließlich zu sich selbst sagt „Scheiß drauf!“. (Ich hatte weiß Gott schon andere Aufträge gemeistert.) Bibi hatte mich in den 2 Tagen um den Finger gewickelt. Ich fühlte mich wie im 7. Himmel. Gegen eine Verlängerung dieses Zustands war nichts einzuwenden…
Außerdem konnte ich als Gottes Nachfolger oder wenigstens kurzfristige Vertretung vielleicht an der ein oder anderen Stellschraube drehen… für eine bessere Welt. Nein, ich würde mich nicht zu sehr einmischen. Ich dachte vielmehr: Wenn Gott glücklich ist, dann sollte sich das automatisch auf die Menschen übertragen. Ein Gott im Burnout-Modus konnte nichts Gutes auf der Welt bewirken. Ich dagegen war neu im Job mit einem bezaubernden Engel an meiner Seite.

 

It`s summertime

Meine Fahrradreise bereits long ago – ich erinnere mich dunkel: da war doch was.
30 Tage Urlaub auf ein Kalenderjahr verteilt sind definitiv zu wenig!

Im Job läuft alles wie gehabt. Homeoffice im Wechsel mit Bürotagen. Unzählige Tumorfälle warten darauf, von uns dokumentiert zu werden. Wem das nicht irgendwann aus dem Hals heraushängt – also, ich weiß nicht. Regulär muss ich noch bis 2029 durchhalten, um dann mit einer Niedrigrente in die Altersarmut zu starten. Vielleicht mit etwas Glück erlebe ich das nicht mehr – ich arbeite dran. Prost!
Oder ist das zu defätistisch?

Na ja, erstmal ist Wochenende. Ich gönne mir mal wieder ein verlängertes, den Montag dazu. It`s summertime in Berlin. Wäre ich ein paar Jahrzehnte jünger, würden meine Hormone durchdrehen. Ein einziger Augenschmaus, was einem da in den Parks und Biergärten vor die Linse kommt. Nun, nicht dass mich der Anblick hübscher Frauen heute völlig kalt lässt, aber ich verspüre nicht mehr diesen wahnsinnigen Druck.
Wollte ich nochmal jung sein?

Vorbei ist vorbei. Das Leben findet im Jetzt statt. Ich beziehe mein durchgeschwitztes Bett, höre Blues, trinke in aller Gemütsruhe Gin Tonic, lasse den lieben Gott einen guten Mann sein. Wo ist all das Erlebte hin? Fand es überhaupt statt? Einiges zeugt davon: Bilder, Postkarten und andere Objekte… Ich hole sie so gut wie nie hervor, ab und zu alte Gedichte. Fotos und Objekte zeigen mir lediglich die Vergänglichkeit. Worte dagegen können mich zeitlos anrühren. Sie verstauben nicht. Jedenfalls nicht in dem Maße wie andere Sachen dem Zerfall ausgesetzt sind.
Ich sollte mehr lesen.

Eine Minute reiht sich an die andere. Niemand weiß, wo die Minuten herkommen. Manchmal vergehen sie nicht schnell genug, z. B. während ich vorm Computerbildschirm sitze und Tumoren dokumentiere. Aber insgesamt gesehen vergehen die Minuten viel zu schnell.
Warum sitze ich hier plötzlich als alter Sack?!


Es war gestern und ist doch heute (22)

Schwarz-Weiß


Wenn ich alte Filme schaue und die jungen Schwarz-Weiß-Gesichter sehe, denke ich fasziniert, dass die meisten davon inzwischen tot sind… Dieses ewige Nachwachsen macht mich mürbe. Geschichten entstehen, werden Geschichte. Wie viele Geschichten passen in ein Leben? Wie schnell ist heute gestern?
Auch die Verliebtheit unterliegt der Korrosion der Zeit mit ganz unterschiedlichen Halbwertszeiten. Es gibt Lieben, die schnell vergehen, und Lieben, die unendlich langsam dahinschmelzen. Manche Lieben dauern an, während ich längst wieder neu liebe.
Ich öffne meine Seele und schaue auf Ruinen, überwuchert vom Efeu des stetig Nachwachsenden, bedeckt vom Staub der Zeit-Winde, niedergemacht vom Ego der Gegenwart… Die Gegenwart ist brutal. Wir suchen sie sehnsüchtig auf. Wir verzweifeln an ihr. Wir scheitern an ihr.
Der Schwarz-Weiß-Film fasziniert. Robert Mitchum in einer Paraderolle. Er hatte diesen Schlafzimmerblick – wie geschaffen für die Rolle des Detektivs Marlow.
Ich träume. Ich träume mich in eine Schwarz-Weiß-Welt, in eine Gut-Und-Böse-Welt, in eine Welt der Helden und der Anti-Helden – von gestern, von heute, von morgen… bis das Licht ausgeht.

13.06.2003
(redigiert am 08.05.2022)

Die Zeit rast

Kaum sind August und Urlaub zu Ende, finde ich mich Mitte September wieder, also fast. Da fällt mir ein, dass wir heute den 11.09.21 haben. Nine Eleven hat seinen 20sten Jahrestag. Ist das nicht irre? Passend dazu der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Die Taliban dürfen sich freuen. Für die Mädels, die in den Zeiten des Nation-Buildings zu jungen aufgeschlossenen Frauen nach westlichem Vorbild heranreiften, tut es mir besonders leid. Welcome back in the middle age. Traurig. Auch der dekadente Westen macht im Zuge der Corona-Pandemie seit Monaten Rückschritte hin zum Totalitarismus… Das war wohl nichts mit dem Nation-Building. Als Vorbilder taugen wir nicht viel, oder nur bedingt. Unsere Worte und Versprechen sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Das war schon immer so. Ich denke z.B. an die Unterdrückung und Beinahe-Ausrottung der Ureinwohner Amerikas – nach dem Motto „Passt euch gefälligst an, oder krepiert eben“. Das ganze umkleiden wir mit unseren hehren Verfassungen und ach so fortschrittlichen Demokratien. Wie stolz wir doch auf unsere Überlegenheit sind! Sowieso sind wir immer die Guten… Darum wollen auch alle zu uns nach Deutschland.
Okay, bevor mir schlecht wird, muss ich das Thema wechseln. Ein paarmal tief durchatmen. Aus dem Fenster blicken. Es regnet nicht mehr. Die Autos stehen an den Straßenrändern Spalier. Das Kopfsteinpflaster glänzt von der Nässe. Vereinzelt Spaziergänger und Jogger. Ein hundsnormaler Samstagvormittag. Déjà-vu.

Wohin gehen wir?

Das Leben der Menschen auf der Erde bedeutete Knechtschaft, nachdem die Menschen das freie Leben in der Natur aufgegeben hatten und sich „zivilisierten“… Wie kam es dazu, dass wir uns zur Sesshaftigkeit entschieden? Wie kam es dazu, dass wir uns nach und nach von der Natur entfremdeten? Mussten wir notwendigerweise an den zivilisatorischen Punkt gelangen, an dem wir heute stehen? Wann begann die Misere der Kriege? Wie wurden wir uns selbst zu Feinden?
Das Rad der Menschheitsgeschichte kann niemand zurückdrehen. Wir wurden zu Abhängigen eines Systems, das wir selbst entwickelten. Wir machten uns die Erde untertan mit all seinen Geschöpfen. Wir schufen eine Hierarchie losgelöst von der Natur. Wir knechten unsere eigenen Artgenossen. Wir verwechseln Macht mit Freiheit. Wir propagieren Menschlichkeit, handeln jedoch unmenschlich.
Wer sind wir? Woher kommen wir? (Wohin gehen wir?) Was machte uns zu den Monstern, die wir (aktuell) sind?

Ich gönne mir ein verlängertes. Einmal mehr schlafen gehen ohne eine achtstündige fremdbestimmte Verpflichtung am nächsten Tag. Es war mal wieder so weit, und ich nahm mir diese kleine Freiheit. Auch wenn dabei ein kostbarer Urlaubstag flöten geht. Scheiß drauf!
Soll ja fast frühlingshaft werden die nächsten Tage. Der Schnee der letzten Woche floss bereits fast vollständig in die Gullys. Nur wenige dreckige Inseln erinnern noch an das weiße Wunder.
Die Zeit vergewaltigt sowieso alles. In ihrem warmen Arsch stecken wir fest, bis von uns nichts mehr übrig ist… und wir alle im Gully sind.


Der Ernst des Lebens

Dass das Leben furz-kurz ist, muss ich niemandem über Fuffzig sagen… Darum Prost! – es muss nicht noch furztrocken sein… Besonders Wintertage (im November ist für mich gefühlt bereits Winter) haben es eilig. Es lohnt sich kaum, sich etwas vorzunehmen. Bis man als alter Sack in die Pötte kommt, wird`s schon wieder dunkel. Das Wochenende erscheint wie ein Tag mit 2x Schlafen. Gut erinnere ich mich an meine Kindheit, als mir die wenigen Stunden zwischen Mittagessen und Abendessen unfassbar lange erschienen. Ich baute in der aus meiner heutigen Sicht kurzen Zeitspanne mit Lego Fantasiereiche und schlug mit Cowboys und Indianern ganze Schlachten; und wenn wir draußen spielten, unternahmen wir Expeditionen und entdeckten neue Erdteile… Niemals hätte ich mir in meinem kleinen Kopf ausmalen können, was die Zukunft in fünfzig Jahre bringen wird.
Und heute sitze ich hier in Berlin, der kleine Hosenscheißer von damals unfassbar weit weg, wenn ich ihn nicht gerade im Geiste hervorstöbere… Die unglaubliche Story vom kleinen zum großen Hosenscheißer, die jeder erlebt, obwohl ich bei einigen meiner Mitmenschen denke: Die müssen bereits „fertig“ auf die Welt gekommen sein – unmöglich, dass die mal Kind waren. Man spricht ja nicht umsonst vom Ernst des Lebens. Er zeichnet ihre Gesichter. Er macht ihren Blick trübe. Er liegt tonnenschwer auf ihren Schultern und drückt sie nieder. Von Dämonen und Ängsten verfolgt, Golems ihrer eigenen verfluchten Existenz. Es gibt kein Entkommen…

„Und was ist mit der Liebe? Ich weiß, dass du dich nach Liebe sehnst.“
„Sie ist weg. Verschwunden oder versteckt hinter den Blauen Bergen oder in einem entfernten Nebel. Vielleicht war alles nur Einbildung – die Fantasie eines kleinen Hosenscheißers…“
„Eines großen Hosenscheißers.“
„Wenn du so willst.“
„Es fehlt dir am Glauben.“
„Nein. Es ist was anderes… Was willst du eigentlich von mir?!?“
„Es bricht mir das Herz, dich derart geknickt zu sehen.“
„Ich bin nicht geknickt. Quark mit Soße. Du wirst es nicht verstehen. Es ist wie ein Riss in der Wirklichkeit. Irgendwas stinkt gewaltig auf dieser Welt. Ich werde dieses Gefühl nicht los…“
„Aber du warst doch auch glücklich. Du hast geliebt.“
„Eine Zeit der Illusion.“
„Na und? Wenn alles eine Illusion ist – was macht das?“
„Hör auf!“
„Okay. Aber nur für heute.“




Es kommt, wie`s kommt

Ich kann die Dinge weder vor- noch zurückdrehen. Unglaublich, wie lange gewisse Dinge brauchen. Ich ließ mir immer schon viel Zeit. Aber langsam schrumpft das Zeitpotential, das mir bleibt. Also in diesem Leben mit dieser Identität. Ich will nicht alt werden. Jedenfalls nicht so alt wie die Alten, die ich als Altenpfleger betreute. Auf der anderen Seite halte ich es für kindisch, sich dem Altern zu verweigern. Da haben wiedermal nur die Blender was davon. Diese Arschgeigen, die jede Gelegenheit beim Schopfe packen, um aus den Nöten der Menschen Reibach zu machen.
Ich kann mein Leben weder vor- noch zurückdrehen. Vordrehen wäre auch dämlich. Aber ich wünschte mir doch, dass die Wüstenstrecken kürzer ausfielen. Besonders in der Liebe. Vielleicht hätte ich besser haushalten sollen mit dem Liebesglück. Nichts bekommen wir für die Ewigkeit. Nicht nur die physischen Ressourcen schwinden mit der Zeit. Auch unser Glück wird immer knapper. So manches müssen wir beerdigen, bevor wir selbst in die Grube fahren.
Es fällt mir schwer, den Dingen ihren Lauf zu lassen, wenn die Zeit gefühlt immer schneller vergeht. Nicht dass ich ein besonders ungeduldiger Mensch wäre. Ich bin nicht gerade scharf auf den Knochenmann. Noch bin ich zu sehr dem Fleischlichen zugetan…
Ab und zu halte ich Zwiesprache mit dem Tod, was dann ähnlich abläuft wie eines dieser unsäglichen Mitarbeitergespräche (erst kürzlich wieder eins gehabt). Ich bin danach nicht klüger als zuvor, aber eineinhalb Stunden älter. Warum ich mir das antue? Das wüsste ich auch zu gern. Vielleicht habe ich einen Hang zum Makabren. Natürlich weiß ich, dass der Tod auch nur seinen Job macht. Darum fragte ich ihn, ob er in der Gewerkschaft wäre, schließlich gäbe es inzwischen fast 8 Milliarden Seelen auf der Erde, und er müsse das wie eh und je ganz alleine stemmen. Es vergingen ein paar Momente, bis er mir trocken antwortete: „Ich bin selbstständig.“
„Dann läuft das Geschäft ja prima.“
„Ja, war schon mal schlechter.“
„Das freut mich.“
„Danke.“
„Ich glaube aber nicht, dass das mit dem Wachstum ewig so weiter geht.“
„Darauf habe ich keinen Einfluss.“

Fast tut mir der Tod nach solchen Gesprächen leid. Er hat sich auf eine Sisyphos-Arbeit eingelassen – ich wollte nicht mit ihm tauschen. Okay, auch Tumordokumentation hat was von Sisyphos, aber ich muss das nicht ewig machen. Kommt mir manchmal vor, als säße ich im Vorzimmer des Todes. Man könnte fast sagen, dass der Tod mein eigentlicher Arbeitgeber ist. Heute wie damals als Altenpfleger.