Angestupst

Vor dem Aufstehen einen wunderbaren Vortrag auf YouTube zur Chaostheorie gesehen/gehört. Ich könnte also gut eingestimmt in den Sonntag starten. Doch bis jetzt fehlt mir der entscheidende Impuls. Ich hocke wie ein Gorilla stoisch am Schreibtisch mit der Bluesmusik meines Lieblingsbluessenders in den Ohren. „Jedem neuen Anfang liegt ein Zauber inne“ – schon klar, lieber Hermann Hesse, hast wohl nichts von Massenträgheit gehört? Dein Gedicht „Stufen“ finde ich gar nicht so übel (diente im Vortrag zur Chaostheorie als Einleitung sowie als Schlusswort). Ich mag nur nicht diesen wegweisenden/psychotherapeutischen Touch. Auf Lebensratgeber reagiere ich allergisch, selbst wenn sie in Gedichtform daherkommen. Hast du trotzdem gut in Worte gefasst, wie wir uns von Stufe zu Stufe durchs Leben schleppen. Ohne Mühe kein Lohn. Man muss dem chaotischen System Energie zuführen, damit es in Gang kommt. Aber morgens esse ich nun mal nichts. Essen macht mich träge. Ich gehe lieber mit leerem Magen durch den Tag. Als unverbesserlicher Schluckspecht verlege ich mich aufs Trinken. Und dabei sitze ich herum und warte auf einen Impuls – z.B. auf den Impuls zu einem Text oder einem Gedicht. Gedichte schrieb ich früher viel mehr. Seltsam, wie sich manche Veränderungen im Leben ergeben. Kaum merkbar. Andere Veränderungen wiederum ereilen einen quasi über Nacht. Entweder werden durch langwierige innere/persönliche Entwicklungen neue Realitäten angestoßen, oder die neuen Realitäten ergeben sich brutal und plötzlich durch einschneidende Ereignisse von außen. Manchmal, wenn mir besonders öde ist, wünsche ich mir ein solches Ereignis, das mich aus den gewohnten Bahnen reißt. Nein, keine Krankheit oder Katastrophe. Es reicht ein ordentlicher Stupser… Nicht, dass man mich eines Tages mumifiziert an meinem Schreibtisch ausgräbt (und der Blues spielt immer noch).
Corona ist gewissermaßen auch so ein Stupser, der gleich die gesamte Welt aus ihren gewohnten Bahnen warf. Für viele eine Zumutung und extreme Belastung. Klar. Doch als Gesellschaft haben wir dadurch die Chance, althergebrachte Muster zu verlassen für den von Hesse so schön beschriebenen Zauber eines Neuanfangs… z.B. mit Ideen für eine menschlichere und gerechtere Welt.
Okay: Ich muss nicht an das glauben, was ich mir erträume. Beim Glauben bremst mich der Verstand aus. Doch prinzipiell hält das Chaos alles offen. So in etwa entstand auch dieser Text. Nur ein kleiner Stupser…
So long.

 

… zur letzten Ruhe

Im nächsten Leben bitte als Schildkröte. Der Tag nimmt mich in seine weichen Kissen, in denen ich vor mich hinträume. Wenn O. morgens zur Uni eilt, erhebe ich mich schwerfällig vom Bett – was eigentlich nur einen Positionswechsel darstellt: ich erweitere meinen Bewegungsradius auf die fünfzig Quadratmeter der Wohnung. Die meiste Zeit verbringe ich allerdings sitzend am Schreibtisch. Links und rechts die Schulordner mit den Unterlagen wie feindliche Heere vor meinen Stadtmauern.
Das erste, was ich heute Morgen sehe, als ich aus dem Fenster schaue, ist ein Mann, der mit dem Kopf im Müllcontainer steckte. Als ich zehn Minuten später aus dem Bad zurückkomme, kramt er immer noch, voll konzentriert. Ich blicke nur flüchtig hin. Er könnte mich sehen, die Müllcontainer stehen im Hof nur wenige Meter vom Küchenfenster. Schon häufiger fragte ich mich, ob ich das auch könnte, im Hausmüll anderer nach irgendwie verwertbaren Sachen wühlen. Wenn einem nicht viel anderes übrigbleibt – wer weiß. Also besser jetzt meinen Kopf in die Unterlagen zur Tumordokumentation stecken. Mache ich aber nicht. Ich nehme mir ein Bier aus dem Kühlschrank, lese die Internetnachrichten und höre Musik von unserem Lieblingsbluessender. Allerlei geht mir durch den Kopf. Unter anderem überlege ich mir, wo ich im Falle meines Todes eigentlich begraben werden will. Nicht, dass es mir furchtbar wichtig wäre. Tot ist tot. Da ist es mir eigentlich wurscht, wo ich liege. Oder?
Jedenfalls besuchte ich noch keinen der vielen Berliner Friedhöfe in den zwei Jahren, seit ich hier lebe. Das liegt auch daran, dass O. solche Orte als Ausflugsziele ablehnt. Allgemein meidet sie das Thema Tod. Sie steckt so voller Leben, dass sie alles, was mit Tod und Vergänglichkeit zu tun hat, weit von sich schiebt. So erklärt sich auch, dass sie immer wieder aufmunternd zu mir sagt: „Du bist doch gar nicht alt!“ Denn ich lasse mich gern gehen und betone dabei mein Alter. Schließlich ist sie um einiges jünger.
Ich googelte also u.a. heute Vormittag nach den Berliner Friedhöfen. Nur mal so zur Orientierung.