Heute ist Alles

Ich falle durch mein Leben zurück in die Vergangenheit. Ich durchquere 6 Jahrzehnte. Meine Erinnerungen wirbeln durcheinander. Es gibt kein Oben und kein Unten. Trotzdem fühlt es sich an, als würde ich fallen… wie durch Nebel. Bilder tauchen fetzenhaft auf und werden wieder verschluckt. Es ist, als würde ich durch 1000 TV-Programme zappen. Ich kann nicht anhalten. Mein Leben ist ein Puzzle, das in alle Richtungen auseinanderfliegt. Erinnerung und Verstand versuchen es krampfhaft in einen Rahmen zu pressen…
Heute ist heute, und heute ist Alles. Ich sitze an meinem Schreibtisch und falle. Meine Finger fallen auf die Tastatur, um festzuhalten, was nicht festzuhalten ist. Die Puzzleteile verlieren an Farbe. Lief nicht alles nach Wunsch? Mein Leben ist mein Leben ist mein Leben. Der beste Kampf ist der, den man nur verlieren kann und ihn trotzdem kämpft…

Ich treffe mich mit Sisyphos zum Bier in der Kupferkanne.
„Was geht ab, Alter?“ fragt mich Sisyphos.
„Nichts anderes als bei dir“, antworte ich und grinse, „ich mache einfach weiter.“
Gabi steht am Zapfhahn und sorgt dafür, dass uns nicht der Saft ausgeht.

Brasko und das Lächeln der Freiheit (3)

„Bitte Wodka pur“, rief mir Freedom hinterher.
Wow! dachte ich, taffe Lady!
„Der ist gut“, sagte sie, nachdem ich wieder Platz genommen hatte.
„Ja, ein Geschenk einer guten Bekannten… Ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten, Freedom“, setzte ich an, „aber wurde die Freiheit nicht schon immer mit Füßen getreten? Ist die Freiheit nicht die erste, die stirbt, wenn der Mensch auf dem selbstsüchtigen… oder ideologischen Trip ist?
Die Freiheit erlebte in der Menschheitsgeschichte nur kurze Momente, in denen sie wirklich geachtet wurde. Meist trug der Mensch sie nur plakativ vor sich her, ohne ihrem wahren Geist gerecht zu werden.“ – Ich nahm einen großen Schluck Wodka + Cola Zero koffeinfrei – „Nun frage ich Sie, wie kann ich Ihnen helfen??“
„Mr. Brasko, Sie haben recht, ich starb schon viele Tode. Sie übrigens auch“, Freedom lächelte mich voller Güte und Liebe an. Am liebsten hätte ich sie umarmt. Es gab Menschen, die Bäume umarmten oder ihr Auto streichelten… Warum sollte ich die Freiheit nicht herzen, wenn sie schon leibhaftig neben mir saß.
„Später“, sagte Freedom, die offenbar meine Gedanken lesen konnte oder sie zumindest erriet, „ich sollte endlich auf den Punkt kommen… Wie ich bereits erläuterte, wollen gewisse Mächte mir gerade gehörig ans Leder. Auch wenn ich ein Wesen aus einer feinstofflicheren Dimension als der Ihren bin, fürchte ich doch um mein Leben. Es ist nicht besonders angenehm, wie Sisyphos immer wieder von vorne zu beginnen – you understand?“ Freedom trank ihr Glas in einem Zuge leer und lachte lauthals, „Mr. Brasko, wissen Sie, dass Sie ein ganz außerordentlicher Mann sind?! Sie können sich geehrt fühlen, dass ich Sie auswählte… Gucken Sie nicht so verdattert! – bringen Sie mir lieber noch ein Glas dieses Spitzen-Wodkas!“

Es kommt, wie`s kommt

Ich kann die Dinge weder vor- noch zurückdrehen. Unglaublich, wie lange gewisse Dinge brauchen. Ich ließ mir immer schon viel Zeit. Aber langsam schrumpft das Zeitpotential, das mir bleibt. Also in diesem Leben mit dieser Identität. Ich will nicht alt werden. Jedenfalls nicht so alt wie die Alten, die ich als Altenpfleger betreute. Auf der anderen Seite halte ich es für kindisch, sich dem Altern zu verweigern. Da haben wiedermal nur die Blender was davon. Diese Arschgeigen, die jede Gelegenheit beim Schopfe packen, um aus den Nöten der Menschen Reibach zu machen.
Ich kann mein Leben weder vor- noch zurückdrehen. Vordrehen wäre auch dämlich. Aber ich wünschte mir doch, dass die Wüstenstrecken kürzer ausfielen. Besonders in der Liebe. Vielleicht hätte ich besser haushalten sollen mit dem Liebesglück. Nichts bekommen wir für die Ewigkeit. Nicht nur die physischen Ressourcen schwinden mit der Zeit. Auch unser Glück wird immer knapper. So manches müssen wir beerdigen, bevor wir selbst in die Grube fahren.
Es fällt mir schwer, den Dingen ihren Lauf zu lassen, wenn die Zeit gefühlt immer schneller vergeht. Nicht dass ich ein besonders ungeduldiger Mensch wäre. Ich bin nicht gerade scharf auf den Knochenmann. Noch bin ich zu sehr dem Fleischlichen zugetan…
Ab und zu halte ich Zwiesprache mit dem Tod, was dann ähnlich abläuft wie eines dieser unsäglichen Mitarbeitergespräche (erst kürzlich wieder eins gehabt). Ich bin danach nicht klüger als zuvor, aber eineinhalb Stunden älter. Warum ich mir das antue? Das wüsste ich auch zu gern. Vielleicht habe ich einen Hang zum Makabren. Natürlich weiß ich, dass der Tod auch nur seinen Job macht. Darum fragte ich ihn, ob er in der Gewerkschaft wäre, schließlich gäbe es inzwischen fast 8 Milliarden Seelen auf der Erde, und er müsse das wie eh und je ganz alleine stemmen. Es vergingen ein paar Momente, bis er mir trocken antwortete: „Ich bin selbstständig.“
„Dann läuft das Geschäft ja prima.“
„Ja, war schon mal schlechter.“
„Das freut mich.“
„Danke.“
„Ich glaube aber nicht, dass das mit dem Wachstum ewig so weiter geht.“
„Darauf habe ich keinen Einfluss.“

Fast tut mir der Tod nach solchen Gesprächen leid. Er hat sich auf eine Sisyphos-Arbeit eingelassen – ich wollte nicht mit ihm tauschen. Okay, auch Tumordokumentation hat was von Sisyphos, aber ich muss das nicht ewig machen. Kommt mir manchmal vor, als säße ich im Vorzimmer des Todes. Man könnte fast sagen, dass der Tod mein eigentlicher Arbeitgeber ist. Heute wie damals als Altenpfleger.



Wer den Stein runterrollen lässt, muss ihn mühsam wieder hochtragen

Freiheit ist kein Zustand, der an Bedingungen/Lebensumstände geknüpft ist, sondern ein Gefühl. Doof halt, dass gewisse repressive äußere Umstände sich in aller Regel negativ auf mein Freiheitsgefühl auswirken. Dem wirke ich dann mit ein paar Flaschen Bier entgegen. Bestimmt gibt es auch wirksamere Drogen, um in einem Gefühl der Freiheit zu schwelgen… Ich persönlich bleibe lieber bei meinem alten Kumpel Alkohol. Ich bin etwas altmodisch. Es soll auch Menschen geben, die dasselbe durch Meditation erreichen. Das ist dann auf alle Fälle gesünder.
Was ich mit meinem Eingangssatz sagen wollte: Die Welt mit ihren Einschränkungen, Doktrinen, Gesetzen, Geboten, Regeln und Grenzen können wir schwer ändern. Im besten Falle erreichen wir punktuell mehr Freiheit für Einzelne oder Gesellschaftsgruppen, indem wir für geistige Aufklärung, Emanzipation und Gerechtigkeit eintreten. Viele Kämpfe wurden im Laufe der Geschichte für mehr Freiheit geführt. Einige wurden sogar gewonnen. Darum lebe ich heute in einer freieren Gesellschaft als vor… 80 Jahren. Würde ich mal behaupten. Noch – denn gesellschaftliche Freiheiten können uns auch wieder verloren gehen, oder sie verändern sich im Zuge der technischen und kulturellen Entwicklung. Die nächsten Generationen entwickeln womöglich ganz andere Werte, als ich sie habe. Die Digitalisierung der Welt weist bereits in eine Richtung, die mir nicht besonders angenehm ist. Ebenso existieren gegenwärtig auf der Welt Kulturen mit zum Teil unterschiedlichen Freiheitsvorstellungen. Eine westliche Demokratie ist nicht mit einem islamischen Staat zu vergleichen. Freiheit in der menschlichen Gesellschaft/Wirklichkeit ist also sehr relativ… Wir werden immer im Zeitgeist einer Kultur gefangen sein.
Eigentlich ist es müßig, ständig von Generation zu Generation, von Zeitalter zu Zeitalter gegen Ungerechtigkeit und Unfreiheit in der Welt anzukämpfen. Das Leben selbst mit seiner täglichen Routine ist Sisyphos in Reinkultur. Darum befasse ich mich lieber mit der Tagträumerei und der Freiheit als Gefühl – mehr oder weniger unabhängig von der Welt da draußen.
Freilich, würde man mir mein Bier wegnehmen, wäre ich echt sauer! Denn dann bliebe nur noch Meditieren…