Fliegen ficken

Als Tagträumer schießen mir zwischendurch Sequenzen aus meinem Leben in den Kopf. Genauso gut könnten die Bilder einem Traum entspringen, zu undeutlich sind sie. Bin ich mir wirklich sicher, dass es sich so zutrug?

Herr Klingenfuß war nicht lange unser Deutschlehrer. Er erinnerte ein wenig an Catweazle in jungen Jahren und hielt sich nicht unbedingt an den Lehrplan. Wir hingen an seinen Lippen, wenn er Geschichten erzählte. Als pubertierende Teenager wollten wir nicht gerade Goethe, Schiller oder Lessing lesen. Herr Klingenfuß gab uns Stoff, der uns eher gefiel, z.B. Dürrenmatts „Der Richter und sein Henker“. Ich las damals am liebsten Comicheftchen. Bukowski hatte ich noch nicht für mich entdeckt.
Es muss sich im Oktober 1976 zugetragen haben, als die Mannheimer Filmwoche stattfand. Herr Klingenfuß führte uns ins Kino aus, in die Uraufführung Rainer Werner Fassbinders Films „Satansbraten“. Von der Handlung weiß ich nichts mehr. Die erschien mir reichlich abstrus. Lediglich der Ausspruch eines Protagonisten blieb mir im Kopf hängen, weil der ständig wiederholte: „Fliegen ficken, Fliegen ficken, Fliegen ficken…“
Wir saßen kichernd in unseren Kinositzen. Es gab noch andere Obszönitäten. Viele Besucher verließen angewidert den Kinosaal.
Ein paar Tage später war unser Kinobesuch einen längeren Artikel in der Lokalpresse wert. Einige Eltern hatten sich wohl beschwert und an die Presse gewandt. Die moralische Keule wurde geschwungen: Wie konnte dieser Lehrer nur?! – Empörung hoch Zehn… Nun, da es eine Uraufführung war, kannte der Lehrer den leicht perversen Inhalt des Filmes nicht. Allerdings, so die Elternschaft, hätte er mit den Kindern vorzeitig die Kinoaufführung verlassen müssen.     
Wie gesagt, Herr Klingenfuß war nicht lange unser Deutschlehrer. Mir tat es leid, denn er war einer der wenigen Pauker, die einen mitreißenden Unterricht abhielten, wenn auch mit manchmal unkonventionellen Methoden.

Ich denke, dass alles so oder ähnlich geschah. Der Ausspruch „Fliegen ficken“ verankerte sich fest in meinem Gedächtnis. Fassbinders Film „Satansbraten“ jedenfalls gibt es tatsächlich, und er ist längst nicht mehr das kleinste Skandälchen wert.

Der Satansbraten

„Lebenslänglich!“ Die Stimme des Richters klang wie von ganz weit her – eingewoben in die Welt, der rote Faden, das Hintergrundrauschen des Alls. Sie spielte sich nur in meinem Kopf ab, obwohl ich damals im eigentlichen Sinne noch gar keinen hatte. Nun war also ich an der Reihe. Ich stand ganz vorne in der endlosen Schlange der wartenden Seelen und wurde abgeurteilt. Eine Farce. Nur wenige wurden aussortiert und mussten sich wieder ganz hintenanstellen. Warum, entzieht sich meiner Kenntnis. Einige der Wartenden murmelten: „Lieber Lebenslänglich, als wieder hinten anstellen“ oder „Parias“.
„Wessen sind wir eigentlich angeklagt?“ fragte ich verhalten, und mein Hintermann raunte: „Das ist eine unerlaubte Frage. Sei besser still, wenn du nicht wieder hinten landen willst.“ Mir kam diese ganze Prozedur reichlich spanisch vor. Wieso wussten einige unter uns mehr als ich darüber? Kurz überlegte ich mir, einfach aus der Reihe zu springen. Was sollte schon geschehen? Eine Seele kann man nicht töten. Aber ich schaffte es nicht. Das Ganze glich einem Albtraum – ich musste mich mit den anderen unaufhörlich vorwärts bewegen. Wie lange schon?
„Lebenslänglich!“ tönte die Stimme aus der Ferne. Sodann wurde ich zu zwei Seelen geführt, die mich in Empfang nahmen. Ich wusste damals nicht, dass es meine Eltern waren. Sie hatten die Aufgabe, das Urteil zu vollstrecken. Der Rest ist Geschichte. Hier sitze ich, ein waschechter Satansbraten, und schmore in der Hölle – dieser Ort, den die meisten vermeintlich Leben nennen. Wie dem auch sei. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Urteil anzunehmen. Hätte ich den Mund aufgemacht, würde ich wahrscheinlich immer noch in der Reihe stehen – wie bestellt und nicht abgeholt. Und auch wenn ich von Zeit zu Zeit mit dem Urteil und den ganzen Umständen hadere, so arrangierte ich mich doch mit den Jahren damit. Wenn ich ehrlich bin, habe ich sogar Angst vor dem Ende meiner Strafe. Komme ich dann zurück in diese endlose Schlange wartender Seelen? Und alles beginnt von vorne? Eine Menge meiner Mitmenschen scheinen darüber mehr zu wissen als ich. Sie leben voller Demut und betrachten die Strafe als Geschenk. Wie meine Eltern führen sie eine oder mehrere wartende Seelen ihrer Strafe zu. Oft sehr liebevoll. Und danken wir es ihnen?
Nein, ich leide nicht unter dem Stockholm-Syndrom. Selbst wenn es gesellschaftlicher Usus ist. Ich bleibe ein hadernder Geist. Niemand kann mir Schwarz für Weiß verkaufen. Wenn ich`s damals auch nicht schaffte, aus der Reihe zu tanzen, will ich wenigstens hier ein paar verbale Schüsse gegen den Muff und den Kleingeist abfeuern. Und wenn mich darum ein weltliches Gericht verurteilte, würde ich lachend ausrufen: „Ich habe schon lebenslänglich!“