Prosagedicht
Es war gestern und ist doch heute (30)
Der Schrei(b)er
Die Straße glänzt mattgrau. Es regnet.
Der Kinderwagen hat ein Nummernschild und einen Benzinmotor.
Menschliche Formen kriechen über den Erdboden, entblößt,
die Strömung reißt sie in den Abgrund,
Hände, klammernd am Kanaldeckel, Gefühle werden weggeschwemmt.
Ein Mann geht nach Hause zum Abwasch,
eine Frau bedient den Presslufthammer.
Kinder sind Verbrecher.
Das Paradox wird zur Norm.
Ich sehe, was du hörst,
ich rieche, was du siehst,
ich fühle dich, du Biest.
Der Schreiber ist verwirrt, er wird abnorm.
Hat er die Abnormität erst erreicht, kann er sie nicht mehr beschreiben.
Ich möchte nicht schreiben,
ich möchte schreien!
Die Persönlichkeit verwächst mit dem Geschriebenen,
Gedanken fließen aufs Papier und versickern.
(1981)
Es war gestern und ist doch heute (29)
Langsam ersaufen
Im Regen ertrinken mit Kevin Coyne
Im Ohr
Von einer Schneewalze erfasst werden
Und Robert Redford im Rollkragenpullover
Sehen
Ein Erdenbürger fand den Tod in einer
Müllpresse
Den Zeitungsausschnitt pinnte ich mir
An die Wand
Da fällt mir der Film „Magnolia“ ein
In dem es in einer Szene Kröten regnet
Ein starker Film
Mit Tom Cruise mal anders
Herrjeh, den letzten Satz streiche ich
Der hört sich beschissen an
Stattdessen
Mit David Bowie ins All driften
Ohne die Chance auf Rückkehr
Ein Stier nimmt mich auf die Hörner
Und Hemingway grinst mich
An
Wenn ich doch dieses nervöse Zucken
Des linken Augenlids nicht hätte
Gott – die Nerven!
Warum kommt mir jetzt Didi Hallervorden in den Sinn?
Dieser Gedanke sprengt das ganze Gedicht
Dann doch lieber mit Reinhold Messmer
Auf den Spuren des Yeti
Und wenn die Luft zu dünn wird, kriege ich eine
Mund und zu Mund-Beatmung
Mit echten Barthaaren
Scheiße – ich sehe Bruce Willis
Wie er als Weltraumpirat Hildegard (meine Liebe) begattet
Ich stecke in meinem Raumanzug und pendel
Da draußen
Herum
Mal bin ich im Blickfeld
Dann verschwunden
Ich hänge an der Nabelschnur, und plötzlich ist am anderen
Ende
Johannes Rau, der Bundespräsident
Im ersten Moment habe ich Angst, aber dann
Beruhigt mich sein Lächeln
Sich in die Wüste verabschieden ohne einen Tropfen
Wasser aber mit einem neuen Satz Batterien
Für den Walkman
Und wisst ihr, was ich auflege?
Ton, Steine, Scherben
Tom, der Wirt des Kakadu, erhängte sich im Nebenraum seiner Kneipe
Während Rio Reiser…
Nee, ich pack`s nicht mehr
Ich werde eine Runde Weinen gehen
Und dann zurückkommen
(ca. 2000)
Es war gestern und ist doch heute (16)
Amnesie
Man hat eine orientierungslose Frau
in Fürth aufgegriffen, die sichtlich
heruntergekommen vor der
Tür des T-Punkts lag
die Schuhe musste man ihr von
den Füßen schneiden
ihre Fußsohlen waren enthäutet
Zur selben Zeit erschoss ein Verrückter
drei Menschen in einem Erfurter Gymnasium
und wartete auf seinen Fall-Down
durch ein Spezialeinsatzkommando
Nichts wird sein wie vorher, sagt
ein Bürger und zerreißt
einen Liebesbrief
Im 3. Stock des Wohnblocks liegt ein
verlassenes Baby halbzugedeckt
in seiner Wiege
und plärrt sich vor Hunger die Seele
aus dem Leib
während unten ein Penner auf einer
Parkbank in seiner Kotze liegt
Die Sonne scheint heute nicht
sie leidet unter Amnesie
sie hat ihr Scheinen vergessen
Ich gehe in die nächste Runde:
unter mir rumort der Erdkern
und rülpst zur Erdkruste hinauf
natürlich stürzen dabei ein paar Häuser
in Venezuela ein
Ein südafrikanischer Multimillionär
schwebt indessen in der Umlaufbahn
und erfreut sich an der göttlichen Kulisse
des blauen Planeten
In meinem Zimmer wird es dunkel
auf der Tastatur greifen meine Finger daneben
wenn ich die Musik abdrehe, höre ich
das Rauschen der Autobahn
ich möchte mich mit einem Plakat auf
die Autobahnbrücke stellen
darauf in großen Lettern zu lesen:
„DER WAHNSINN FAEHRT WEITER!“
Kraftfahrer dämmern hinterm
Lenkrad ein
ein Sattelschlepper zerdrückt eine Wagenkolonne
zu Brei, und ein herumirrendes Unfallopfer wird
von einem Kotflügel enthauptet
wir sammeln die Leichen ein
Jeder Tag bringt den totalen
Erinnerungsverlust
wie immer gehe ich in den Super-
markt und stelle meine abgestumpften
Gefühle aufs Laufband
die Kassiererin schaut grimmig
als der Oma vor mir ihre Geldbörse aus der Hand gleitet
in Zeitlupe sehe ich die Münzen herabsegeln
urplötzlich holt die Kassiererin einen
silbrig glänzenden Smith & Wesson Colt
aus dem Nichts hervor
und schießt sich in den Kopf
Hirn und Blut spritzt
mir ins Gesicht
Wo bezahle ich jetzt mein Bier? frage ich.
(2002)
Es war gestern und ist doch heute (6)
Die Poetentankstelle
Vergeblich suche ich die Leichtigkeit
finde etwas Zerstreuung beim Blättern durch die Lyrik
von Nazim Hikmet
weihnachtlicher Lichter-Schmuck vor der Kneipentür
die Nacht hat sich den Tag gepackt
ich sitze auf einer abgewetzten Holzbank
das Bier griffbereit vor mir
gäbe es doch eine Poetentankstelle für das Auftanken
unserer leeren Köpfe
zu gegebener Zeit
an dem opulenten Arsch der Bedienung kommen meine
Blicke nicht vorbei
ihre Augen sind ständig entzündet, und ihr lächelnder Mund
wie eine Mondsichel –
die Kneipe ein kurzer Schlauch
Geborgenheit
Vergeblich suche ich die Leichtigkeit
Gedanken huschen wie lästige Fruchtfliegen vor meinem
Geist
die Reise vom Heute in das Morgen
ist Unruhe
bin ich der Gast, der auf der verwetzten Holzbank sitzt
das Bierglas ansetzend
die Lyrik von Nazim Hikmet vor Augen
wie den opulenten Arsch der Bedienung?
gäbe es doch eine Poetentankstelle für das Auftanken
unserer leeren Köpfe
zu gegebener Zeit
die fremden Menschen rücken in mein Gefühl
als wären sie Kunstwerke einer liebevoll arrangierten
Ausstellung
Öllampen brennen auf den Kneipentischen
der freie Bauchnabel einer Frau, die sich streckt
die Mutter hebt das Baby aus dem Kinderwagen
und wiegt es an ihrer Brust
das kleine Wesen fasst sich einen Finger
unsere Augen leuchten
Die Nacht, die sich den Tag geholt hat
die Kälte der illuminierten Stadt im Winter
vergeblich suche ich die Leichtigkeit
ich leide unter einem chronischen Katarrh der Seele
gäbe es doch eine Poetentankstelle für das Auftanken
meines leeren Kopfes
zu gegebener Zeit
(18.12.2005)
– der „alte Schluuch“, eine meiner Lieblingskneipen, immer wenn ich nach Basel kam –
Also ganz ehrlich: Das ist doch mal wieder ein scheiß Wochenende!
Ich wiederhole es gern: Das ist doch mal wieder ein scheiß Wochenende!
…
Immer noch kein Echo?!?
…
Und dann ist es schon fast wieder rum.
Ich wälze mich im Bett ein paarmal hin und her, und das scheiß Wochenende ist schon wieder rum!!
…
Ich hätte tierisch Bock auf eine fette Weltuntergangspizza mit Kapern und Meeresfrüchte!
…
Und dann platze ich, dass es mich überall in der Wohnung verteilt.
Und die Waschmaschine läuft weiter.
Und der Blues aus dem Internetradio läuft weiter.
Und die Hauswände stehen grau und stumm.
Und vor meinem Fenster pinkelt ein Hund an die Hauswand.
Und mein rechtes Auge klebt an der Zimmerdecke.
Und mein linkes Auge rutscht langsam die Fensterscheibe runter.
Und irgendwo in Berlin rammeln sich zwei Liebende die Seele aus dem Leib.
Und irgendwo anders in Berlin scheißt sich ein Besoffener in die Hose.
Und über der Wolkendecke fliegt eine Passagiermaschine der Sonne entgegen.
Und der Pilot vergleicht in Gedanken den Arsch der Flugbegleiterin mit dem Arsch seiner Frau.
Und er kriegt einen Steifen.
Und dann einen Infarkt.
Und die Maschine stürzt ab.
Und mein linkes Auge rutschte inzwischen am Fenster hinunter
…
bis ganz unten.