Bestimmt verfahren

So was kann passieren. Ein Tag ohne Licht. Das Heulen der U-Bahn im Ohr. Morgendlicher Blues. Die täglichen Nachrichten ertrage ich nicht mehr. Auf der Wodkaflasche das Emblem eines stattlichen Hirschs. Dafür, dass ich fast 6 Jahrzehnte im falschen Universum lebe, habe ich mich gut gehalten, denke ich und grinse innerlich. Ich meine, es könnte schlimmer sein. Es ist wie auf der Kirmes. Wenn man erstmal in der Achterbahn sitzt, gibt’s kein Zurück mehr. Okay, man kann sich krampfhaft festhalten, die Augen schließen und warten, bis es rum ist. Wieso haben die anderen eigentlich so viel Vergnügen daran? Was zum Teufel ist mit denen los?! – ich kann also nur falsch sein. Dieser Gedanke beruhigt mich etwas, denn ich will mich nicht unnormal fühlen. Falsch abgebogen oder falsch gelandet. So was kann schließlich passieren. Deswegen ist man noch lange nicht unnormal. Gott sei Dank sieht man mir das auch nicht an. (Oder doch?) Ich sehe im Großen und Ganzen aus wie alle anderen. Ich wollte nie auffallen. Lieber im Boden verschwinden. Intuitiv wusste ich schon immer, dass ich hier falsch war.
Der Tag ist noch in der ersten Runde. Sein Stoizismus überträgt sich auf mich. Er ist weder ein Sprinter noch ein Langstreckenläufer. Er kommt und geht. Tage sind Staffelläufer. Ich lasse mich fallen. Ich warte ab. Wie eine Spinne in einer Zimmerecke. Mit dem Unterschied, dass die dort genau richtig ist. Jedenfalls vermute ich es.

       

Der Hirsch auf dem Fahrrad

Nach dem Nachmittagseinkauf im Supermarkt und ein paar Bierchen im Pub holte ich gestern auf dem Nachhauseweg eine Paketsendung ab. Ein Kiosk, nur ca. 200 Meter von meiner Wohnung entfernt, dient auch als DHL-Filiale. Es war bereits dunkel. Eine schwere kalte Feuchte lag in der Luft. Der Kioskbesitzer, ein Türke, kennt mich schon. Ich muss meinen Ausweis nicht mehr zeigen. Wir gehen nett miteinander um. Ich mag das. Wie es in den Wald hineinschallt, so schallt es heraus. Überhaupt mag ich solche Begegnungen der Vertrautheit. Im Pub, an der Kasse im Supermarkt oder anderswo. So freue ich mich im Büro jeden Tag auf meine Mittagspause, die ich regelmäßig in der „Kupferkanne“ verbringe, einem Lokal, dass ich mit dem Fahrrad in fünf Minuten erreiche. Fast immer entwickelt sich mit der Wirtin ein kleiner Plausch über dies und das. Das sind Wiederholungen, die ich aufgrund der menschlichen Wärme und der Zwanglosigkeit genieße. Wenn ich dann zurück ins Büro komme, bin ich relativ entspannt.
Ich stieg also auf mein Brompton, hielt das Päckchen in einer Hand und lenkte mit der anderen. Das kann schon mal wacklig werden, zumal ich das Kopfsteinpflaster hinüber auf die andere Straßenseite überqueren musste. Und Zack! war es passiert. Ich saß am Straßenrand auf meinem Hosenboden. Shit! Eine zufällig vorbeikommende Radfahrerin hielt an und fragte: „Alles in Ordnung? Soll ich Ihnen helfen?“ „Nein, alles in Ordnung“, antwortete ich schnell und dachte: Sehe ich so hilfsbedürftig aus?? Ich hatte mir bei dem Sturz nichts getan. Trotzdem fragte diese nette Frau dreimal nach, bis sie ihre Fahrt fortsetzte. Ich rappelte mich hoch. In mir gemischte Gefühle. Zum einen war ich von dem Gedanken angekackt, dass mir die Frau derart hartnäckig ihre Hilfe anbot. Zum anderen dachte ich bereits kurz nach diesem Vorfall: Verdammt! – hätte ich sie doch helfen lassen… Wer weiß, was daraus entstanden wäre? Wiedermal fehlte es mir an Spontaneität. Mein männlicher Stolz stand mir im Weg. Sie war nett und sah nicht übel aus.
Die letzten Meter bis zur Haustür bewältigte ich ohne Sturz. Ich zog mich bis auf die Unterwäsche aus. Keine Schrammen und Blutergüsse, keine Schmerzen. Ich packte das Päckchen aus: ein Poster, das ich vor ein paar Tagen bestellt hatte. Fürs Büro. Darauf ein Hirsch auf einem Fahrrad.