Desperado

Die menschliche Psyche gewöhnt sich auch an unangenehme Lebenslagen, wenn Gefahr, Angst, Unterdrückung, Diskriminierung, Ausgrenzung und Fremdbestimmtheit kein Ende nehmen wollen. Als Kind floh ich in meine Spielewelt und konsumierte Massen von Süßigkeiten. Als Teenager entdeckte ich den Alkohol und die Kneipen. Noch heute trinke ich viel, aber nicht mehr exzessiv. Und nach wie vor gehe ich gern in die ein oder andere Kneipe, doch nicht täglich und schon lange nicht mehr „till the bitter end“. Es stimmt, dass im Alter die Getriebenheit nachlässt. Die Hörner stieß ich mir zur Genüge ab. Als junger Mann dachte ich jeden Tag, ich würde was verpassen, wenn ich nicht auf die Piste ging. Und meinen Kumpels ging es ebenso. Wir verabredeten uns, lungerten herum und tranken Bier. Unsere Hauptthemen waren Gott und die Welt, Saufen und Frauen. Vor allem Saufen und Frauen. Oder wir trafen uns zum Skat oder Billard. Genaugenommen wussten wir gar nicht, was wir wollten, Hauptsache Spaß haben. Nur nicht das Spießerleben unserer Eltern führen. Die Kneipe war unser Refugium. Was formulierte ehemals der olle Goethe? – „Hier bin ich Mensch, hier darf ich`s sein.“ Das war unser Credo neben „leben und leben lassen“.
Während meine Kumpels einer nach dem anderen ins Spießerleben abrutschten (sie nannten es erwachsen werden), harrte ich in meinem selbstgewählten Desperadotum aus. Der Duktus der Leistungsgesellschaft war mir zuwider. Auch wenn ich einige Kompromisse im Zwischenmenschlichen und im Job eingehen musste, blieb ich innerlich ein Rebell. Meine Seele stand nicht zu Verkauf.
Ich gehörte nicht zu den Aufmüpfigen, die auf die Straße gingen, Parolen gegen das Establishment skandierten und Steine warfen. Das war nicht mein Ding. Die Maulhelden wollen sich immer nur selbst profilieren. Man muss sich nur mal die Lebenswege des ein oder anderen Politikers und Managers anschauen. Sie schliefen sich durch die Betten und Ideologien. Sie wissen immer genau, was sie wollen – nämlich oben stehen, egal in welchem System. Ihre Rücksichtslosigkeit verschleiern sie mit Worten wie Realpolitik, Alternativlosigkeit und Pragmatismus. Sie wollen am liebsten alle Menschen am Gängelband halten. Freiheit nur denen, die nach ihrer Pfeife tanzen.
Mit mir nicht.

    

Alles ist hohl

Ich mag abwegige Ideen, also Ideen, die von unserer gelebten Wirklichkeit abweichen… teils erheblich abweichen. Auf YouTube ziehe ich mir allerlei rein: von UFO-Theorien, Präastronautik bis hin zur Hohlen Erde. Selbst die Mainstreamwissenschaft gelangte inzwischen an einen Punkt, wo irrwitzige Theorien sprießen. Wir reden vom Multiversum, von Wurmlöchern und eingerollten Dimensionen. Las ich als Kind noch fantasiesprengende Märchenbücher, so entdecke ich heute das Fantastische (Unheimliche) in den sogenannten konkreten Wissenschaften. Die Wissenschaftler erscheinen wie Magier, wenn sie über die Phänomene des Universums oder der Quantenwelt referieren. Ich weiß nicht, ob sie verstehen, worüber sie reden. Zumindest tun manche so. Erforschte Realität und menschlich erfahrbare Wirklichkeit stehen im Diskurs. Was ist Materie? Existiert sie als solche überhaupt? Was ist Raum? Was ist Zeit? Nicht einmal die genialsten Geister der Welt finden auf diese Fragen zufriedenstellende Antworten. Das Wesen der Welt bleibt ein Mysterium. Dazu gehört unser Dasein. Dazu gehören Bewusstsein und Intellekt, welche uns erst über die Welt sinnieren lassen.
Wer bin ich? Woher komme ich? Wozu das alles? Ich habe oft das Gefühl, dass solche Fragen ketzerisch sind. Niemand will sie hören. Selten gab es Menschen, mit denen ich mich darüber ernsthaft austauschen konnte. Der erste und zugleich wichtigste Mensch, der auf meine Fragen einging, war meine Mutter… Als Teenager wurde mir klar, dass ich niemals aufhören kann, unser Dasein zu hinterfragen. Ich kann mich nicht der materialistischen Welt ergeben. Auf der anderen Seite blieben mir die angebotenen Religionen suspekt. Ich sah in ihnen lediglich eine Ausrede.
Gott ist tot. Er passt schon lange nicht mehr in unsere Welt. In meine Welt hätte er nie gepasst. Zu jeder Zeit wäre ich ein Ketzer gewesen. Glücklicherweise lebe ich heute und nicht im Mittelalter.
Ich glaube an nichts. Ich verleugne gar meine Existenz. Ist das nicht verrückt? Dieser absurde Nihilismus schafft erst das, was ich zu begreifen meine… Eben nichts.
Da sitze ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor.

Das zumindest kapierte schon Goethe.

Zurück zur Faszination am Fantastischen: Weg von der Selbstvergewaltigung als funktionierendes Mitglied in einer Gesellschaft, die ich nicht verstehe. Weg von der irrsinnigen Bürokratie. Weg von der Leistungsgesellschaft. Weg von Ideen wie Glaube und Kapitalismus. Weg von Krieg und Ausbeutung. Weg von der Macht des Geldes. Weg von der Gewalt. Weg von den vielen Lügen…
– von mir aus hinein in eine Hohle Erde, wo das Gute nicht nur eine blasse Idee ist, sondern seit Jahrtausenden gelebt wird.