Das geheimnisvolle Erbe

Sonntägliche Friedhofsruhe, geradezu unheimlich die morgendliche Stimmung: die trübe und feuchte Witterung, die sich zersetzenden Herbstblätter auf dem grauen Pflaster, Rabengekrächze und Gruselgeschichten von H. P. Lovecraft vor dem Aufstehen…
Von einer Briefsendung der besonderen Art überrascht worden. Seitdem bin ich am Grübeln. Der Nachlass einer entfernten Verwandten, die bereits in den Sechzigern verstarb, liegt an. Da das ursprüngliche Testament aufgrund von Formfehlern als ungültig betrachtet wird, tritt nun die gesetzliche Erbfolge ein. Einer der noch lebenden Erben bin ich.  Ganz blicke ich da noch nicht durch. Und natürlich weiß ich nicht, worin der Nachlass besteht. Nun ist guter Rat teuer. Ich könnte es mir einfach machen und das Erbe ausschlagen… Zuerst will ich aber die zuständige Nachlassstelle kontaktieren in der Hoffnung, etwas mehr über die Hintergründe zu erfahren. Auf eine Weise spannend ist diese Sache schon, aber auch unheimlich. Dem Schreiben war ein recht ausführlicher Stammbaum beigefügt. Ich blicke auf die Ahnenreihe mütterlicherseits – all die Verstorbenen, welche auf ein Ehepaar im 19. Jahrhundert zurückgehen, ein kleiner Friedhof entfernter Angehöriger und auf einem Ast meine Großmutter und Mutter bis hin zu mir. Umso mehr ich darüber nachdenke, desto neugieriger werde ich. Was gibt es da wohl zu erben? Und wo erhalte ich die Infos? Soll ich einen Anwalt aufsuchen? Besser erstmal selbst recherchieren und sehen, wie weit ich komme. Sechs Wochen bleiben mir.

Und sonst: Der Tag vor dem Lockdown. Ein gruseliges Corona-Jahr geht in seine letzte Kurve. Am Wochenende noch mal einen in der Kneipe gezwitschert. Für den Sonntag habe ich mir außer Wäschewaschen nichts vorgenommen. Die Woche wird mit zwei Homeoffice-Tagen beginnen. Ich dümpele vor mich hin. Es ist der Herbst-Blues. Der Gedanke an die Endlichkeit – wie viele Jahre noch? Als junger Mensch will man vom Sterben nichts wissen, weil es unendlich weit weg erscheint. Und als ein Mensch, der in die Jahre gekommen ist, will man auch nichts vom Sterben wissen, weil die Schatten bereits vor einem auftauchen. Lieber nicht dran denken.

So, dann mal auf in den Tag!



Nichts ist, wie es scheint

Ich träumte von Costa, meinem Lieblingsgriechen (in meiner alten Heimat). Im Traum war er allerdings Italiener, der das beste Tiramisu ever machen konnte. Das Tiramisu stellte sich im Traum dann als belegte Sandwiches heraus bzw. Baguette-Brötchen, auch unter La Flute bekannt. Süßspeisen mag ich eh nicht. Jedenfalls stand Costa in Rivalität mit einem Franzosen. Dessen belegte Sandwiches waren zwar nicht annähernd so gut, aber er konnte sie besser anpreisen und verkaufen; und so gewann der Franzose den Wettbewerb. Ich war wütend, denn nichts hasse ich auf der Welt mehr als solche zum Himmel schreienden Ungerechtigkeiten. Ich hätte es Costa gegönnt. Nicht umsonst war er mein Lieblingsgrieche, respektive -Italiener…
Was wollte mir dieser Traum nur sagen?
Vielleicht: Ich habe Appetit auf ein lecker belegtes Sandwich, und nichts ist, wie es scheint.

Viele Nachmittage verbrachte ich damals in Costas Gaststätte an der Bar und trank. Ich kann mich nicht erinnern, bei ihm jemals gegessen zu haben. Doch: Ab und zu bestellte ich Gyros zum Mitnehmen. Unglaublich, was man sich im Suff alles reinhaut… Das waren die Neunziger. Ich pendelte 30 Kilometer zwischen Wohnung und Altenheim, wo ich in einer Dachmansarde hauste, um nicht täglich hin und herfahren zu müssen. Mitunter praktisch, zwei Schlafplätze zu haben. Das sorgte für Abwechslung und hielt mich in Bewegung, denn ich pendelte die 30 Kilometer mit dem Fahrrad. Noch heute träume ich manchmal, ich hätte irgendwo eine Wohnung, die ich nur vergaß.

In zwei Wochen ist es soweit, dass ich mal wieder meine alte Heimat besuche. Wahrscheinlich gehen mir deshalb vermehrt solche Erinnerungen durch den Kopf. Ich habe nicht vor, irgendjemanden zu treffen. Sicher ein paar der alten Plätze aufsuchen, u.a. den Friedhof, auf dem meine Eltern seit 2013 ruhen. Nein, auf Wiedersehensgespräche mit alten Bekannten habe ich keinen Bock. Es gibt nur wenige alte Freunde, an die ich öfter mal denke, und die verlor ich aus den Augen. Kapitel abgeschlossen.
Eine gewisse Aufregung vor dieser Reise in meine Vergangenheit kann ich nicht verhehlen…, wird sicher emotional. Einen Rückzieher schließe ich aber aus.

 

Einer der letzten Tage

Ich denke an meine alte Heimat, wo jetzt das alljährliche Winzerfest stattfindet. Der Festplatz liegt an erhabener Stelle, und man hat im nahen Park einen Blick über die Dächer der Stadt und hin zu den Weinbergen des Kraichgaus. Ich denke an meine Eltern, die dort seit 2013 auf dem Friedhof ruhen. Das Schwimmbad, das sicher auch heute gut besucht sein wird, liegt gleich dahinter. Je nachdem, wie der Wind steht, tönt das Kindergeschrei über die Gräber. Ob`s die Toten stört?
Ich denke an die Jahre meiner Kindheit und Jugend, in denen mir meine Heimat zur zweiten Haut wurde. Ich denke an die vielen Freunde und Schulkameraden, die lange schon aus meinem Leben verschwunden sind. Ich denke an meine erste Liebe und unsere Spaziergänge in den Weinbergen.
Das Winzerfest bedeutete Abschied nehmen vom Sommer. Wir saßen auf den Stufen vor der Eissporthalle, die als Festhalle diente, und betranken uns. Ich blickte auf die zahllosen Menschen, die ihre Runden auf dem Festplatz drehten, die Musik der Fahrgeschäfte, die gebetsmühlenartigen Mikrofon-Ansagen der Schausteller in den Ohren, der Duft von Zuckerwatte in der Luft…, daneben der Geruch von Alkohol und Pisse.
Die Jahre gingen ins Land. Eine Liebe folgte der anderen. Bier floss in Strömen. Ich ließ die Schulzeit hinter mir. Ich arbeitete. Ich studierte. Ich trank. Ich liebte.
Sechshundert Kilometer liegen zwischen mir und der alten Heimat. Aber es sind nicht nur die Kilometer. Ich wuchs aus ihr heraus wie aus alten Klamotten (– die sind dann für die Tonne). Nur die Erinnerungen bleiben, eine ganze Geisterstadt voller Erinnerungen.

Hier ein Relikt meiner schriftstellerischen Bemühungen aus der damaligen Zeit, 1984:

 

Einer der letzten Tage

 

Der Sommer lag in den letzten Zügen, spuckte noch ab und zu einen warmen Tag aus; und man besuchte das Schwimmbad, weil man Urlaub hatte und nichts Besseres zu tun wusste. Es war kein richtiger Sommer und kein richtiger Urlaub gewesen. Das Ganze schien wie ein Kampf zwischen den vier Jahreszeiten, von denen sich keine geschlagen geben wollte. Sie stritten und balgten sich und vernachlässigten ihre Pflichten. So kam es bei ihm zu einer Verwirrung des Geistes. Er wurde vor- und zurückgeworfen in Geist und Gefühl, schwankte in seinem Schaffen und träumte in den Tag hinein.
Mit dem alljährlichen Winzerfest verließ die warme Jahreszeit Stadt und Land, und der Herbst begann seine blassen Farben auf die Wiesen und Felder zu sprühen. Aber noch war es nicht so weit, und er lag an diesem Nachmittag auf der Liegewiese des Schwimmbads in einem von Bäumen und Sträuchern begrenzten Abteil. Ameisen kitzelten ihn an allen möglichen Stellen, und er kratzte sich, zuckte nervös. Die Wiese war voll von unzähligem Kleingetier, das krabbelte und schwirrte und juckte. Er konnte nicht stillliegen. Das Leben fraß an ihm. Er hörte die Duschen und das Gerede der anderen Badegäste und hörte einen Hubschrauber und hörte ihn auch wieder verschwinden. Die Geräusche wechselten sich ab.
Er war unruhig und unzufrieden an jenem Tag, und es war möglich, dass es der Sommer war, der seine letzten Grüße sandte; es war auch möglich, dass es die Ameisen waren, die ihn wie verrückt kitzelten. Es gab eine Menge Dinge, die ihn beunruhigten, eine Menge Fragen, die er beantworten wollte. Das war so ein Tag, an dem er sich zwang nachzudenken, weil er das Gefühl hatte, es wäre der letzte, und alles wäre einmalig – und wenn nicht heute, wann dann?

 

Zurück

Der Ort meiner Geburt, wo ich aufwuchs, in den Gassen spielte, zur Schule ging, meine erste Liebe fand, als junger Mann in den Kneipen abhing…, wo meine Eltern beerdigt sind, liegt 15 Kilometer südlich an der Bergstraße, eingebettet in die sanften Hügel des Kraichgaus. Ich nahm ein Taxi. Alles um mich herum wurde von Kilometer zu Kilometer vertrauter. Ich dirigierte den Taxifahrer zum Friedhof. Es war früher Mittag. Außer mir gab es nur wenige Besucher. Schnurstracks nahm ich den Weg zum Grab meiner Eltern. Gleich hinter der Kapelle links musste es sein. Ich fand es nicht gleich. Hatte ich mich geirrt? Nein, da war es, ein paar Meter weiter, als ich es in Erinnerung hatte. Ein Grab unter Gräbern. Ich kniete vor der Granitplatte nieder, auf der ihre Namen eingemeißelt standen. Der Himmel über mir wolkenverhangen. Friedhofswetter – wie man es sich vorstellt. Immerhin wurde ich nicht von Regen in meiner Andacht gestört.
Als ich mich erhob und abwendete, erfasste mich eine Welle Wehmut, als würde ich in der Brandung stehen und nun den Sog des zurückfließenden Wassers hinaus aufs Meer spüren. Schweren Schrittes ging ich zum Ausgang. Ein paar Sonnenstrahlen schafften es hin und wieder durch die Wolkendecke. Mein Weg führte mich hinunter in die kleine Stadt. Ich kam mir vor wie ein Riese – meiner Heimat längst entwachsen. Im Zentrum begrüßte mich eine menschenleere Fußgängerzone. Diese ganze Stadt ist ein Grab, dachte ich unwillkürlich, aber es war schließlich Ostersonntag und das Wetter beschissen.
Vorbei an einigen Stätten meiner Kindheit und Jugend. Vorbei am Leimbach, der nach wie vor dahinplätscherte. Vorbei am Wohnhaus, das in neuer Fassade aufwartete. Vorbei am alten Amtsgericht. Vorbei am Jugendkeller, wo ich mein erstes Bier trank… Vorbei am ersten Kaufhaus der Stadt. Vorbei an Marktplatz und Kirche. Vorbei an vielerlei Erinnerungen. Vorbei an den Kneipen… Alles erschien im Lichte dieses Tages reichlich armselig. Wie konnte man in dieser Enge leben?
Wo ich einst im Billard-Café echte Glanzzeiten erlebt hatte, residierte jetzt eine Shisha-Bar. Die Bierbörse daneben gab es noch, und sie hatte sogar geöffnet. Vielleicht sehe ich dort einen alten Bekannten, dachte ich, um mit ihm über die glorreichen Zeiten zu plaudern. Meine Emotionen hämmerten in mir und drängten heraus, aber es gab niemanden, mit dem ich sie teilen konnte. An der Bar spielten die Bedienung und ein Stammgast Karten. Ich trank mein Bier und betrachtete die Öde vor mir. Fast hätte ich die Bedienung angesprochen: Wie lange arbeiten Sie schon hier? Wissen Sie, ich bin hier zu Besuch in meinem Geburtsort, das Grab meiner Eltern besuchen. In den Achtziger/Neunzigern trank ich in der Bierbörse oft mein Bier. Kennen Sie vielleicht noch den Micha? Der war damals Wirt. Eine gute Zeit. Die Kneipen immer voll…
Stumm beendete ich meine Thekensitzung und bezahlte.
Am Taxistand stand kein Taxi, und es begann zu schiffen. Ich schimpfte vor mich hin und flüchtete in ein Café, einstmals Traditions-Kaffeehaus des Ortes, heute von Ausländern geführt. Alles machte mich plötzlich wütend. Wer waren diese Leute? Woher kamen sie? Was war passiert? Was für ein totes Kaff! Ich fühlte mich bestohlen und gekränkt. Ich wurde hier geboren, meine Eltern liegen hier begraben – hört ihr! hätte ich am liebsten in den Raum gerufen. Ich trank noch ein Bier und orderte über den Barkeeper das Taxi für die Rückfahrt.