Kaum sind August und Urlaub zu Ende, finde ich mich Mitte September wieder, also fast. Da fällt mir ein, dass wir heute den 11.09.21 haben. Nine Eleven hat seinen 20sten Jahrestag. Ist das nicht irre? Passend dazu der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan. Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Die Taliban dürfen sich freuen. Für die Mädels, die in den Zeiten des Nation-Buildings zu jungen aufgeschlossenen Frauen nach westlichem Vorbild heranreiften, tut es mir besonders leid. Welcome back in the middle age. Traurig. Auch der dekadente Westen macht im Zuge der Corona-Pandemie seit Monaten Rückschritte hin zum Totalitarismus… Das war wohl nichts mit dem Nation-Building. Als Vorbilder taugen wir nicht viel, oder nur bedingt. Unsere Worte und Versprechen sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Das war schon immer so. Ich denke z.B. an die Unterdrückung und Beinahe-Ausrottung der Ureinwohner Amerikas – nach dem Motto „Passt euch gefälligst an, oder krepiert eben“. Das ganze umkleiden wir mit unseren hehren Verfassungen und ach so fortschrittlichen Demokratien. Wie stolz wir doch auf unsere Überlegenheit sind! Sowieso sind wir immer die Guten… Darum wollen auch alle zu uns nach Deutschland.
Okay, bevor mir schlecht wird, muss ich das Thema wechseln. Ein paarmal tief durchatmen. Aus dem Fenster blicken. Es regnet nicht mehr. Die Autos stehen an den Straßenrändern Spalier. Das Kopfsteinpflaster glänzt von der Nässe. Vereinzelt Spaziergänger und Jogger. Ein hundsnormaler Samstagvormittag. Déjà-vu.
Fortschritt
Vertiefung
Im Kurzbeitrag „Ohne freies Denken keine Freiheit“ gehe ich davon aus, dass die Menschen selbstverständlich Freiheit anstreben.
Die Menschheitsgeschichte erzählt anderes. Da waren die wenigen, welche sich privilegiert viele Freiheiten nehmen konnten, und da waren die vielen Menschen, welchen bereits das Denken an Freiheit untersagt war. Die Massen wurden als Untertanen/Diener/Sklaven geboren und starben in aller Regel als solche. Erst im Zuge des Zeitalters der Aufklärung verloren die alten Herrschaftsstrukturen an Boden, und gegen Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Ungleichheit wurde zunehmend erfolgreich revoltiert. Aber selten war es der kleine Mann allein, der sich auflehnte. Er wurde von Intellektuellen der bürgerlichen Klasse zum Aufstand animiert. Umstürzlerische Ideen wie den Sozialismus initiierten große Denker und Utopisten. Seitdem etablierten sich zumindest in Teilen der Welt politische Systeme mit modernen Verfassungen, welche dem Individuum unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft und Religion dieselben (Menschen-) Freiheitsrechte zubilligen. Die Demokratie ist eine relativ junge Erscheinung, wenn man mal von ihren griechischen Wurzeln absieht. Und wie bei allem, was den Menschen verkauft wird, gilt: Das Produkt wird nicht in allen Punkten dem gerecht, was auf der Verpackung dazu zu lesen ist. Meist hebelt das Kleingedruckte alle vollmundigen Versprechungen aus. Der Idiot ist (wie immer) der weitsichtige kleine Bürger. Wir leben heute im Schatten einer monströsen Staatsbürokratie, die uns auf dem Weg zu unserem Recht so viele Steine in den Weg legt, bis wir aufgeben oder tot sind. Freiheit und Gerechtigkeit gelten pro forma. In Wirklichkeit herrscht das Kapital im Zusammenschluss mit der staatlichen Exekutive. In früheren Zeiten waren es weltlicher Fürst und Kirche.
Die Mächtigen waren schon immer lernfähig (so schnell werfen sie den Bettel nicht hin): Da der aktuelle Zeitgeist die zu offensichtliche Unterdrückung/Gängelung von Menschen verurteilt, werden die modernen Vasallen gemästet und durch allerlei mediale Ablenkungen verdummt und ruhiggestellt. Dazu noch eine gute Portion Propaganda, und schon hat man den Bürger im Balla-Balla-Land – genusssüchtig bzw. konsumdebil. Ich befürchte, dass sich die Mehrheit des Volkes allzu leicht in ihre Unfreiheit einfügt und die Machteliten machen lässt. Existenzängste werden geschürt, die Alternativlosigkeit betont, währenddessen unser Verstand vom Mantra des Konsums betäubt daniederliegt.
Ich will den Fortschritt auf der Welt nicht leugnen. Aber kommt er uns allen zugute? Doch wieder nur wenigen. Sowieso stellt sich mir die Frage, ob die Menschheit in ihrem Fortschritts- und Wachstumswahn ihren Nachfahren eine lebens- liebenswerte Welt hinterlässt. Ich sehe selbstzerstörerische Tendenzen. Als Alkoholiker weiß ich, was das heißt. (Aber als alleinlebender ist es auch mein alleiniges Problem.)
Die Freiheit des einzelnen muss sich immer seiner Umgebung anpassen. Die Menschen auf der Erde leben in einer Art Wohngemeinschaft zusammen, aus der es (vorerst) kein Entkommen gibt. Wenn wir friedlich und halbwegs freiheitlich zusammenwohnen wollen, müssen wir vieles erdulden und vieles teilen (einige Einschränkungen zum Wohle aller hinnehmen), zumal jeden Tag viele Tausend Mitbewohner hinzukommen…
Ich wünsche mir eine Welt, in welcher die Mächtigen sich in Demut üben, in der der kleine Mann aufwacht und sich im freien (aufgeklärten) Denken übt und sich nicht in Vorurteile und propagiertes Feindbilddenken zurückzieht. Ich wünsche mir eine Welt, in der wir die Natur und unsere Mitgeschöpfe mehr achten, die Erde weniger ausbeuten. Ich wünsche mir eine Welt mit weniger Dünkel und Gewalt, dafür mehr Rücksicht auf den anderen sowie gegenseitige Empathie.
Nennt mich Utopisten oder Idealisten. Das bin ich sicher.
…
„Prost! Auf das freie Denken! Auf die Freiheit! Auf das Universum und das Leben!“
Alles
„Prof. Dr. Bonanza, ich stelle Sie den Bloggern erstmal vor. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich falsche Angaben bezüglich Ihrer Vita mache.“
„Hust. Äh. Freilich.“
„Sie studierten auf der Mond-Universität fast alles, was man studieren kann.“
„Richtig.“
„Ihre Doktorarbeit hatte den Titel „Menschlicher Größenwahn und Kosmologie, Zusammenhänge, Widersprüche und die Auflösung von Materie und Raum.“ Ein sehr komplexes Thema…“
„In der Tat.“
„Kurze Zeit später erhielten sie eine Professur auf dem Mars…“
„Ich korrigiere: es war der Merkur, nicht der Mars. Ein erheblicher Unterschied!“
„Entschuldigen Sie, Prof. Bonanza… natürlich Merkur! Und dort erfanden sie das Lehrfach „Alles“, in welchem Sie bis heute unterrichten.“
„So in etwa. Wobei ich das Lehrfach nicht erfand – da es ja schon immer „Alles“ gab.“
„Können Sie vielleicht unseren nichtwissenden Bloggern kurz erläutern, welche Lehrinhalte Sie Ihren Studenten vermitteln?“
„Kurz gesagt „Alles“. Spezieller würde ich sagen, dass es um das Verständnis für „Alles“ geht. Im Wesentlichen beleuchte ich dabei das Scheitern des menschlichen Geistes.“
„Aber nicht im dystopischen Sinne.“
„Nein. Ich halte den Menschen für dumm genug, sich geistig weiterzuentwickeln.“
„Wie bitte!?“
„Ganz genau. Es geht nicht um den Sieg einer vermeintlichen Intelligenz über die Dummheit. Ich könnte Ihnen tausend Beispiele nennen, wo die Dummheit zielführender als ein intelligentes System ist. Das beste Beispiel hierfür ist die Natur, welche seit Anbeginn aller Zeiten nach ganz simplen Methoden vorgeht.“
„Sie wollen sagen, dass der ganze technische Fortschritt uns Menschen nicht weiterbringt?“
„Nur bedingt. Bisher führte er vor allem zu einer maßlosen Überschätzung unseres Wissens und unserer Fähigkeiten. Ziemlich dumm eigentlich – Haha.“
„Was wollen Sie der Menschheit sagen, Prof. Bonanza? Dass sie sich auf dem Holzweg befindet?“
„Am liebsten würde ich der Menschheit „Alles“ sagen. Aber dafür bin ich zu klein. Selbst Gott hatte diesbezüglich seine Probleme… Doch das ist ein anderes Kapitel. Ich erforsche nicht die Vorstellung des Menschen von Gott, sondern „Alles“ inklusive unserer fehlerhaften Prämissen in Bezug auf den Kosmos und das Menschsein… Was will ich der Menschheit sagen? Hm. Ganz trivial: Sie sollte ihren Blick auf die Gesamtheit ihrer Art und der Welt lenken und sich nicht in Kleinkriegen verlieren. Es wäre besser, wenn sie sich wieder besser in „Alles“ einfügte und keinen Sonderstatus für sich beanspruchte.“
„Und Ihre eigenen Ziele?“
„Ich habe da jemanden auf dem Saturn kennengelernt und werde wohl bald übersiedeln… Die Liebe – alles oder nichts… die Tragikomik des Individuums unterm Sternenzelt.“
„Vielen Dank für das Gespräch, Prof. Bonanza. Wir wünschen Ihnen viel Glück in der Liebe und auf Ihrem weiteren Schaffensweg.“
„Danke. Es wird sich alles fügen. Hust.“
Gut, dass ich kein Baum bin
Wie man ins Scheißhaus hineinruft, so schallt es heraus. Der Wald wird konsequent abgeschafft. Viel zu viele Bäume stehen einfach im Weg herum. Die Kontinente der Erde agglomerierten zu einem Multi-Konzern, deren Manager der Mensch ist. Irgendwo in den Tiefen des Internets las ich, dass auf jeden Erdenbewohner noch etwa 400 Bäume kommen (immerhin!). Schätze aber, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, dass es mehr Menschen als Bäume geben wird. Interessehalber schaute ich gleich noch nach der Anzahl der Autos auf der Welt: sollen inzwischen über eine Milliarde sein. Auf jeden siebten/achten Mensch kommt somit ein Auto. Was für ein Fortschritt! Das sah vor 100 Jahren noch ganz anders aus – oder? Und für die Benutzung der Autos, stehen uns mittlerweile ca. 30 Millionen Straßenkilometer rund um den Erdball zur Verfügung (entspricht einer Entfernung von ca. 390-mal zum Mond und zurück). Da kann man doch nicht meckern. Einfach weg mit den Bäumen, die im Weg stehen!
Die Zahlen sind beeindruckend. Die Entwicklung berauschend. Gestern noch im finsteren Mittelalter, heute mit 5G auf der Datenautobahn… Kollateralschäden müssen in Kauf genommen werden. Seid doch mal ehrlich: Wer wünscht sich die Zeit zurück, als wir noch auf Bäumen herumkletterten oder in Höhlen hausten? Dann doch lieber im SUV über die Betonpisten brausen… Freie Fahrt für freie Affen! Platz da, ich komme! Die Menschheit ist eine einzige Erfolgsgeschichte. Trotz einiger Rückschläge, richteten wir uns immer wieder auf… Wir zivilisierten uns unter großen Anstrengungen selbst. Wir landeten schließlich sogar auf dem Mond, dem treuen Trabanten der Erde, der total überrascht war, als der gute Neil Armstrong 1969 seine Oberfläche betrat, dann noch diesen einen bedeutenden Satz absonderte: „ … “ „Scheiße“, dachte der Mond, „nun kommt die Seuche zu mir.“
„That`s life“, kann ich da nur sagen. Wir Menschen sind nicht aufzuhalten. Wir sind der Prostatakrebs der Erde und streuen ins Weltall. Einfach fantastisch! Mir bleibt die Spucke weg, wenn ich darüber nachdenke, an welcher einzigartigen Geschichte ich teilhabe.
Berlin, die großartigste Stadt Deutschlands, liegt wie ein Fliegenschiss vor meiner Haustür. Ende November 2019.
Inspiriert von
Klaas Heufer-Umlaufs Brandrede für Europa:
„Wie jeder jetzt gemerkt hat langsam, da ist ein sichtbarer Schaden entstanden, wenn es gerade um Europa geht. Ich bin 1983 geboren. Ich bin in eine Zeit hineingeboren worden, in der bestimmte Werte, die momentan in Frage gestellt werden – Toleranz, das Miteinander, eine offene Gesellschaft -, selbstverständlich waren. Auch christliche Werte, völlig egal ob man getauft ist oder nicht. Ich bin nicht getauft. Das respektvolle Miteinanderumgehen. Diese ganzen Dinge, von denen ich in meiner Generation immer denken durfte, das kommt mit der Post. Jetzt hab ich eben gemerkt, das ist überhaupt nicht selbstverständlich.
Da sind Leute nicht zur Wahl gegangen. Was passiert? Brexit.
Da gehen Leute zur Wahl, und zwar wahrscheinlich mehrheitlich die Menschen, die das aus falschen Motiven tun oder fehlgeleitet sind durch was auch immer für eine Informationspolitik – und wählen Trump.
Da sind Dinge kaputtgegangen. Vor unseren Augen. Dinge, die wir nie für möglich gehalten hätten. Deshalb glaube ich, dass jetzt die beste Zeit ist, einen Pulse of Europe und überhaupt eine europäische Identität wieder zu entwickeln. Von Leuten, die Europa niemals in der Erschaffung erfahren haben, sondern eigentlich immer mit einem mittlerweile erschaffenen Europa aufgewachsen sind.
Wir hatten nicht das Gefühl gehabt, zum ersten Mal mit einem Fahrrad über die Grenze zu fahren. In meiner Generation gab’s das alles schon Das heißt, jetzt weg von den verdammten Nationalitäten und zurück zur europäischen Identität. Und mal merken, wenn wir das jetzt machen, sind wir die dümmste Generation die je gelebt hat, wenn wir Europa kaputt machen.“
(Quelle: http://www.stern.de/kultur/klaas-heufer-umlauf–lesen-sie-seine-brandrede-fuer-ein-gemeinsames-europa-7433086.html)
So ist es. Aber nicht nur auf Europa, sondern auf die gesamte Welt bezogen.
Fortschritt passiert nicht automatisch. Werte wie Menschenrechte gelten nicht selbstverständlich. Wir Menschen, die in einer toleranten, aufgeschlossenen und fortschrittlichen Welt leben wollen, die ihren Kindern eine bessere Welt hinterlassen wollen, in welcher sie sich ohne Angst und Repressionen frei entfalten können, müssen immer wieder gegen Wellen der Ignoranz, Rückschrittlichkeit und geistiger Verirrung ankämpfen… mit klaren Argumenten und Ansagen. Wir müssen immer wieder uns selbst und unseren Mitmenschen erklären, was eine gute und lebenswerte Welt ausmacht und warum – warum Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Menschenrechte und die Achtung vor allem Leben wichtig sind, warum Demokratie und Gerechtigkeit ständig erstritten werden müssen.
Und wer sind dabei unsere Gegner? In der Hauptsache sind es unsere eigene Trägheit, unsere Bequemlichkeit, Feigheit und nicht zuletzt unsere Abgestumpftheit. Denn ich bin überzeugt, dass die Mehrzahl der Menschen im besten Sinne aufgeklärt und fortschrittlich denkt. Wir dürfen denen, die in Europa, den USA und überall sonst auf der Welt die Werte von Vernunft und Mitmenschlichkeit torpedieren (warum auch immer sie das tun), nicht die Meinungsführerschaft überlassen!
Bald wird in dieser Hinsicht von unseren französischen Nachbarn eine wichtige Entscheidung gefällt. Ich hoffe, sie wählen gegen rechts und für das gemeinsame Europa.
Es ist schwer auszuhalten, was derzeit Erdogan am Rande Europas anstellt. Die türkische Nation ist zerrissen. Ich wünsche den Türken, dass sie bald wieder auf den Weg hin zu mehr Demokratie und den Menschenrechten finden. Die Türken werden dafür kämpfen müssen und brauchen die Solidarität und Unterstützung aller fortschrittlichen Kräfte, vor allem aus Europa.
Seit dem Mittelalter wurden viele Kämpfe hin zu einer gerechteren, besseren Welt ausgefochten. Das Europa, in dem wir heute leben, dessen Wohlstand und geistigen Werte wir genießen dürfen, muss gegen alle rückständigen Kräfte und Ideen verteidigt werden! Und dies sollten wir nicht alleine unseren Politikern überlassen…
Die Zukunft wird (bald) zeigen, wie wehrhaft unsere westlichen Demokratien sind, und wie es um die kulturellen Werte sowie um den Geist Europas bestellt ist.