Der erste Satz ist der schwierigste

Also einen Anfang finden. Vor allem, wenn man gar nicht weiß, worüber man schreiben soll. Natürlich will ich was aufs Papier bringen. Ich schreibe einfach gern. Einen Aufhänger brauche ich aber schon. Ein Thema. Oder eine Idee. Beim Malen ist es ähnlich. Ich kann doch nicht einfach drauflosmalen. Wo ist das Motiv? Okay, inzwischen gibt`s malende Affen und Elefanten. Die stellen sich solche Fragen wahrscheinlich gar nicht. Sie wissen nicht, dass ihre Werke in irgendwelchen Galerien rumhängen. Das ist ihnen (schätze ich) scheißegal. Nur wir Menschen veranstalten ein solches Affentheater um die Kunst. Aus Geltungssucht, vermute ich, weil wir uns für was ganz Besonderes halten.
Seit Monaten will ich ein Bild malen. Ich hatte sogar ein Motiv. Warum zum Teufel fange ich heute nicht einfach damit an? Habe ich Angst, dass nichts draus wird? Es ist doch nicht das erste Bild, das ich male… Freilich weiß ich vorher nicht, ob es gut wird. Also richtig gut, – dass ich mir selbst auf die Schulter klopfen kann und mir das fertige Bild immer wieder betrachten muss, – gar nicht recht glauben kann, dass ich das geschaffen habe.
Ich muss einfach nur anfangen. Mich selbst nicht unter Druck setzen. Locker bleiben. Nicht selten steht eine Leinwand monatelang auf meiner Staffelei, bis das Bild fertig ist. Also, bis ich es als fertig ansehe…
Schreiben geht demgegenüber sehr viel schneller. Für einen Text auf meinen Blogs brauche ich selten länger als eine Stunde. Danach ein bisschen Feinschliff. Auch wenn das Wortmonster bereits auf dem Blog steht, bessere ich noch die ein oder andere Stelle aus. Ich lese immer wieder drüber. Schön finde ich das, seine eigenen Worte zu lesen. Schön ist es auch, am Strand einen schönen Stein zu finden, ihn in der Hand zu fühlen, ihn ins Wasser zu tauchen und von seinem Anblick fasziniert zu sein. Assoziativ: Geht`s uns bei Menschen, in die wir uns verlieben, nicht genauso? Ist der Mensch derart schön, oder ist es unsere Liebe zu ihm? Am Strand liegen noch Millionen andere Steine, aber wir stolperten über diesen einen, hoben ihn auf und nahmen ihn mit auf unseren Weg. Möglicherweise schmeißen wir ihn in die Fluten, wenn wir ein paar Meter weiter einen schöneren finden. So sind wir Menschen… (ziemliche Leichtfüße)
Was wollte ich eigentlich schreiben? Ist das so wichtig? Ich öffnete einfach das Gatter, und ließ die Worte frei. Die wissen im Allgemeinen, was ich so denke – wie ich ticke. Die Sätze kommen dann fast von selbst. Weg mit den Peitschen und Sporen! Ist reine Vertrauenssache. Wechselseitig. Wie es eben in einer gesunden Beziehung sein sollte…

Ich merke grad, nicht nur der Anfang ist schwer, sondern auch das Ende.

Aller Anfang ist schwer (2)

Ein bisschen wie selbstauferlegter Frondienst. Schon immer empfand ich die Erwerbsarbeit als notwenige Mühsal. Menschen, die sich nicht auf den Feierabend freuen oder gar die Arbeit zu ihrem einzigen Lebensinhalt machen, sind mir suspekt. Oftmals ist das Verhältnis zur Beschäftigung auch ambivalent. Man sagt, dass man seine Arbeit liebt, aber sie einem durch Umstände wie Personalmangel, intrigante Kollegen, herrische Chefs, Überforderung und schlechte Bezahlung vermiest wird. Ich kann von mir sagen, dass ich noch nie einen bezahlten Job hatte, den ich liebte. Zwischenzeitlich war die Arbeitssituation wenigstens angenehm, so dass ich (fast) gern zur Arbeit ging. Aber ich erlebte auch Zeiten, in denen ich mich mit Magengrummeln auf den Weg machte, und mir sagte „was soll schon passieren? – einfach durchhalten“. In der Altenpflege halfen mir zuletzt die Routine und meine jahrelange Erfahrung. Man gewöhnt sich einfach dran und zieht seinen Stiefel durch. Als Resultat fühlt man sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft – man hat was vorzuweisen, gehört zur arbeitenden Bevölkerung. Damit ergibt sich eine persönliche Aufwertung. Der süße Feierabend winkt – man kann auf ein Tagewerk zurückblicken, welches allgemein geachtet wird und bewegt sich unter seinen Mitmenschen selbstbewusster. Außerdem hat man die Agentur für Arbeit vom Hals…
Die ersten drei Tage im neuen Job als Tumordokumentar. Zehn Kolleginnen, ein IT-Fachmann. Alle zeigen sich bisher ganz nett und hilfsbereit. Es lässt sich nach so kurzer Zeit noch nicht viel über die einzelnen Charaktere und Kompetenzen sagen. Die Umstellung ist groß. Einen Achtstundentag hatte ich schon ewig nicht mehr. Eine Teilzeitstelle (75%) wäre mir lieber gewesen. Nun muss ich erstmal in meine Arbeit hineinfinden. Vier Wochen Einarbeitungszeit sind vorgesehen. „Wer nicht fragt, macht sich verdächtig“, sagte die Registerstellenleiterin. Ich glaube, ich fragte die letzten Tage eine ganze Menge. Die Oberdokumentarin wirkte zwischendurch leicht genervt. Sie hat viel an der Backe. Alles ist noch im Aufbau, und es bestehen viele Unklarheiten. So richtig blicke ich an meinem Arbeitsplatz noch nicht durch – fühle mich noch in der „Krabbelphase“. Ich fiebere jedem Schritt entgegen, den ich (hoffentlich) bald selbstständig gehen kann.
Mein aktuelles Erfolgserlebnis beschränkt sich darauf, den Anfang gemeistert zu haben…, und das ist schon mal ganz gut.

Ritchie

Wie alles anfing. Das Wasser floss noch schneller, und Gebüsche waren noch Gebüsche. Ritchie fuhr einen Fiat 500 mit Faltdach. Er war der erste von uns mit einem Auto. Wir waren Schüler des Ottheinrich-Gymnasiums. Die Schule lag in einem weitläufigen Komplex mit anderen Schulen und den Sportstätten am Stadtrand. Sie hatte nichts Besonderes, außer dass sie unsere Schule war. Knapp tausend Pennäler wurden von mehr oder weniger dazu begabten Paukern unterrichtet. Jahr für Jahr wurden wir durch diese Wissensmühle gezogen, und plötzlich standen wir kurz vorm Ende. Zehn Jahre lang (inklusive Ehrenrunde) war diese Schule für mich zu einer meist ungeliebten Pflichtübung geworden. Andererseits entwickelten sich dort Freundschaften, die erste Liebe… Als mittelmäßiger Schüler am unteren Rand schlug ich mich so leidlich durch. Dementsprechend gehörten meine Kumpels nicht zu den Klassenbesten, sondern eher zu den Außenseitern. Was wir gemeinsam hatten: wir schissen auf die Schule (und überhaupt alles). Aber wir waren zu gut erzogen, um nicht eine Restdisziplin aufzubringen. Instinktiv wussten wir, dass ein Abbruch nur noch mehr Probleme gebracht hätte. Wir waren abhängig von den Eltern. Wir wussten nicht viel vom Erwachsensein und Geldverdienen. Was uns die Eltern vorlebten, erschien jedenfalls nicht sehr begehrenswert.
Ritchie war ein pummeliger, kleiner Typ, dem sehr früh die Haare ausgingen. Ich mochte sein Lachen, und er hatte schöne Augen. Und: er war kein Schwätzer. Schwätzer und Angeber waren mir schon immer ein Gräuel. Ritchie mochte Levis Jeans, Led Zeppelin und Fußball.
Endlich konnten wir unsere Entschuldigungen selbst schreiben! Den Sportunterricht am Nachmittag ließen wir gern ausfallen und machten stattdessen eine Sause nach Heidelberg. Alles was weiter als fünf Kilometer von unserem Zuhause entfernt lag, bedeutete damals noch Abenteuer. Auf der Fahrt öffneten wir das Faltdach des Fiat 500 und sangen lauthals Beatles Songs nach oder französische Chansons, die wir bei unserem Französischlehrer gelernt hatten, einer der wenigen guten Pauker, ein Kettenraucher. Seine Stimme klang danach, und er lief ziemlich schlampig durch die Gegend. Aber wir hingen an ihm. Bei ihm fühlten wir uns verstanden.
In der Oberstufe hatten wir jede Menge Freistunden zwischen den Kursen (oder wegen Krankheit einer Lehrkraft). Ritchie fuhr oft für den Hausmeister mit der markanten Säufernase zum Supermarkt und holte dessen Lieblingswein für einen Obolus von zwei Mark. Das reichte für ein Sixpack Bier, das wir schnell noch vorm nächsten Unterricht vernichteten. Die Zeit bis zur nächsten Schulstunde musste dabei genau kalkuliert werden. In jedem Fall waren wir danach lustig drauf. So fing es damals an. Der Beginn meiner Alkoholkarriere.

Aller Anfang ist schwer

Mit smarten Siebzehn trug ich eine Zeitlang die Tageszeitung aus. Der Bezirk, den ich übernahm, bestand hauptsächlich aus einer großen Psychiatrie, parkähnlich auf der Anhöhe über der Stadt angelegt. Das Gelände hatte die Größe von einem Dorf. Zum Einlernen fuhr ich hinten auf dem Moped meines Vorgängers mit, als er seine letzten Touren machte. Für ihn war es längst Routine, aber ich sollte mir alles genau einprägen, während wir von Backsteinhaus zu Backsteinhaus knatterten, vor deren Türen oft schon jemand auf die Zeitung wartete. Mein Vorgänger verriet mir einige Abkürzungen und gab mir Tipps – ich nickte nur und duckte mich hinter ihm auf dem Moped. Es war bereits November und frühmorgens frostig kalt und dunkel.
Schließlich hatte ich meine erste Woche, wo ich selbstständig losfuhr. Ich machte den Job, bevor die Schule Zehn vor Acht begann. Eine knappe Stunde musste ich dafür planen. Wie verändert das Gelände plötzlich aussah! Und die Häuser schienen alle gleich auszusehen. Diese Psychiatrie war ein verdammter Irrgarten! Fast die Hälfte der Zeitungen konnte ich nicht zustellen. Es war eine Katastrophe für mich. Natürlich erhielt ich einen Rüffel von meinem Chef, bei dem die Beschwerden der Zeitungskunden eingingen.
Beschämt erzählte ich meiner Mutter davon, und sie schlug vor, dass wir am Wochenende zusammen die Tour zu Fuß abgehen sollten. Wir zeichneten außerdem einen Plan. Ich glaube, wir verwendeten den halben Sonntag dafür, durch die Psychiatrie zu spazieren. Langsam kam für mich Licht ins Dunkel. Akribisch gingen wir jedes Haus ab, wo ich eine Zeitung (oder mehrere) zu liefern hatte.
Die zweite Woche lief danach wesentlich besser! Ich hatte eine Orientierung und verfranzte mich seltener.
Der Winter wurde kalt und glatt. Meine Mutter machte sich Sorgen, wenn ich frühmorgens mit meinem Moped losschnurrte. Aber alles ging gut. Schon bald hatte ich dieselbe Routine wie mein Vorgänger. Ich war stolz auf meinen ersten Job und das erste selbstverdiente Geld.

Meine Klassenkameradin sagt zu mir: „Das wird schon. Ich dachte anfangs auch „ob ich da jemals durchblicke?“ – aber vieles wiederholt sich mit der Zeit. Ich finde, du wurdest beim Dokumentieren schon schneller.“ Sie sitzt im Unterricht neben mir und kann mit einem Auge mitverfolgen, was ich ins GTDS* eingebe.
Ich bin ihr dankbar für die aufmunternden Worte. Nach zwei Wochen spüre ich erste Fortschritte. Unendlich viele Fragezeichen bleiben aber. Jede Tumorentität hat ihre Spezialitäten. Auch die Anamnesen zu den Fällen können außerordentlich kompliziert und darum schwer abzubilden sein.
Ich werde noch viel Geduld und Anstrengung investieren müssen, bis ich in der Tumordokumentation eine Art Routine bekomme.
Mit der Geschichte von meinem ersten Job als Zeitungsausträger mache ich mir selbst Mut. Ich stehe nicht das erste Mal in meinem Leben am Anfang einer Sache, die mir völlig unmöglich erscheint.

*Gießener Dokumentationssystem