Es war gestern und ist doch heute

Zittern vor Kälte oder vor Liebe

die Kälte einer Frau
nachdem ich sie spüren durfte
auf einer Wiese pflücke ich Blumen
für den Muttertag
wie schnell sie welken
gestern waren wir noch wir
heute nur noch ich und du
der Hader trieb sich um
in unseren Seelen
die Kälte
das ist die Eiszeit unserer Empfindungen
erfroren in den Gedanken
ich liebte dich
in dieser Kathedrale
die ich für die Ewigkeit baute
und heute sehe ich die Ruine
auf den Mauern
moosbewachsen
liege ich nur noch
als Träumer und bete für eine bessere Welt
für gute Menschen
mein Knochengerüst juckt
auf dem harten Untergrund

du erzählst mir Geschichten
die unsere Liebe unmöglich machen
es sind die Argumente der Politiker
die ich tagtäglich in den Foren
der Medien höre
auf den schwarzen Steinen
ihrer Vernunft
die Adern in Marmor gegossen

ich muss nachgeben
weich will ich sein
damit sich alles in mich ergießt
es war ein schöner Augenblick mit dir

29.09.2004

Es war gestern und ist doch heute (30)

Der Schrei(b)er

Die Straße glänzt mattgrau. Es regnet.
Der Kinderwagen hat ein Nummernschild und einen Benzinmotor.
Menschliche Formen kriechen über den Erdboden, entblößt,
die Strömung reißt sie in den Abgrund,
Hände, klammernd am Kanaldeckel, Gefühle werden weggeschwemmt.
Ein Mann geht nach Hause zum Abwasch,
eine Frau bedient den Presslufthammer.
Kinder sind Verbrecher.
Das Paradox wird zur Norm.
Ich sehe, was du hörst,
ich rieche, was du siehst,
ich fühle dich, du Biest.
Der Schreiber ist verwirrt, er wird abnorm.
Hat er die Abnormität erst erreicht, kann er sie nicht mehr beschreiben.
Ich möchte nicht schreiben,
ich möchte schreien!
Die Persönlichkeit verwächst mit dem Geschriebenen,
Gedanken fließen aufs Papier und versickern.

(1981)

Es war gestern und ist doch heute (29)

Langsam ersaufen

Im Regen ertrinken mit Kevin Coyne
Im Ohr
Von einer Schneewalze erfasst werden
Und Robert Redford im Rollkragenpullover
Sehen

Ein Erdenbürger fand den Tod in einer
Müllpresse
Den Zeitungsausschnitt pinnte ich mir
An die Wand
Da fällt mir der Film „Magnolia“ ein
In dem es in einer Szene Kröten regnet
Ein starker Film
Mit Tom Cruise mal anders

Herrjeh, den letzten Satz streiche ich
Der hört sich beschissen an
Stattdessen
Mit David Bowie ins All driften
Ohne die Chance auf Rückkehr

Ein Stier nimmt mich auf die Hörner
Und Hemingway grinst mich
An

Wenn ich doch dieses nervöse Zucken
Des linken Augenlids nicht hätte
Gott – die Nerven!

Warum kommt mir jetzt Didi Hallervorden in den Sinn?
Dieser Gedanke sprengt das ganze Gedicht

Dann doch lieber mit Reinhold Messmer
Auf den Spuren des Yeti
Und wenn die Luft zu dünn wird, kriege ich eine
Mund und zu Mund-Beatmung
Mit echten Barthaaren

Scheiße – ich sehe Bruce Willis
Wie er als Weltraumpirat Hildegard (meine Liebe) begattet
Ich stecke in meinem Raumanzug und pendel
Da draußen
Herum
Mal bin ich im Blickfeld
Dann verschwunden
Ich hänge an der Nabelschnur, und plötzlich ist am anderen
Ende
Johannes Rau, der Bundespräsident
Im ersten Moment habe ich Angst, aber dann
Beruhigt mich sein Lächeln

Sich in die Wüste verabschieden ohne einen Tropfen
Wasser aber mit einem neuen Satz Batterien
Für den Walkman
Und wisst ihr, was ich auflege?
Ton, Steine, Scherben
Tom, der Wirt des Kakadu, erhängte sich im Nebenraum seiner Kneipe
Während Rio Reiser…

Nee, ich pack`s nicht mehr
Ich werde eine Runde Weinen gehen
Und dann zurückkommen


(ca. 2000)

Es war gestern und ist doch heute (28)

brasko und der weihnachtsmann

nachdem ich den platten am hinterrad meines fahrrads repariert hatte, setzte ich mich mit einem bier an meinen computer. keine neuen nachrichten. ich wunderte mich nicht. es war heiligabend. die meisten menschen versanken an diesem datum endgültig in der trostlosigkeit ihres daseins. und das schöne dabei war: sie merkten nichts davon. ich hatte nichts anderes vor als an anderen tagen. ich legte „jimi hendrix in woodstock“ auf und versuchte zu entspannen.
das läuten des telefons ließ mich hochfahren. meine hand glitt aus der hose und griff sich den hörer.
„brasko.“
„guten tag, mr. brasko, hier ist der weihnachtsmann. ich benötige ihre hilfe.“
„schön, um was geht es denn? vermissen sie ihre elche?“
„nein, ich erhalte morddrohungen.“
„ich dachte, sie sind immun gegenüber irdischem peanuts.“
„ich kriege immer diese anrufe auf meinem handy, und eine verstellte stimme flüstert: weihnachtsmann, das war ihr letztes weihnachten …
mr. brasko, sie machen sich ein falsches bild von mir. wenn ich auf die erde komme, bin ich sterblich wie jeder mensch. und heute ist heilig abend.“
„ich verstehe, mr. weihnachtsmann. haben sie noch einen anderen namen? verdächtigen sie jemanden? halten sie mich für blöd?“
„sie können auch claus zu mir sagen. nein, ich habe keinen verdacht. bitte, helfen sie mir aus der klemme.“
„das ist ziemlich knapp, claus. die einzige möglichkeit , die ich sehe, – dass ich sie heute abend als leibwächter auf ihrer tour begleite.“
wir machten also treffpunkt und uhrzeit fest. der weihnachtsmann legte auf, und ich besann mich auf die beschäftigung, bei der ich gestört worden war. ich hatte noch ein paar stunden zeit, mir gedanken über diesen fall zu machen. ich glaube nicht an den weihnachtsmann. offensichtlich wollte mich jemand gewaltig verarschen. aber meine neugierde war geweckt, und ich hatte zum schein den auftrag angenommen. wer steckte dahinter?
es dämmerte. die kälte hielt sich wenige grad über dem gefrierpunkt, und der schnee kroch zurück wie das meer bei ebbe. dieser claus klang reichlich schwul, und ich überlegte, ob ich die stimme kannte. ich hatte keine idee. mir schoß urplötzlich ein bild in den kopf: ein hund, der wie wahnsinnig im kreise wirbelnd seinen schwanz verfolgt … dann fiel mir die flasche johnny walker im kühlschrank ein, und ich wusste, was zu tun war.
wir trafen uns beim griechen. claus wartete schon. er trug einen roten anzug und war glattrasiert.
„guten abend, mr brasko.“
„sie sind also der weihnachtsmann? ich habe sie mir ganz anders vorgestellt.“
„wissen sie, ich möchte nicht erkannt werden. außerdem gehen auch wir mit der zeit, hoho.“
ich betrachtete den weihnachtsmann eingehender und versuchte ihn mir mit einem weißen rauschebart vorzustellen. es klappte nicht. er sah aus wie ein in die jahre gekommener homo.
„gehen wir“, sagte er, „ruprecht wartet schon.“
vor der tür parkte eine überlange, dunkle limousine.
„der schlitten fiel mir vorhin gar nicht auf“, sagte ich.
und claus antwortete, während er mir die hintertür aufhielt: „ruprecht flog ein paar runden.“
„ich verstehe“, säuselte ich und versank in den lederpolstern der rückbank. claus stieg zu ruprecht auf den beifahrersitz. dann starteten wir durch.
wir landeten vor einem night club.
„was ist mit den geschenken“, fragte ich blöde.
„seitdem sich die menschen gegenseitig beschenken, machen wir uns `nen geilen abend.“ claus lachte sein weihnachtsmannlachen: „hohoho.“
„ich verstehe.“
wir stiegen aus und betraten die bar. eine schwulenbar. naja, besser, als zuhause abzustürzen, dachte ich. es ging in dem schuppen hoch her, und ich hatte mühe, claus vor den allseitigen annäherungsversuchen zu schützen. claus und ruprecht tanzten ausgeflippt, umarmten sich leidenschaftlich und schoben sich gegenseitig ihre rosaroten lappen in den rachen. mein gott, dachte ich, warum läßt du das zu? plötzlich zerriß ein schuß den tosenden lärm. claus plumpste wie eine puppe rücklings auf die glitzernde tanzfläche. ich stürzte zu ihm und stützte seinen kopf, während augenblicklich totenstille im raum herrschte. blut rann aus seinem mir zugeneigten mundwinkel.
„claus“, raunte ich dem sterbenden zu, „ sie erzählten mir nicht alles.“
„ja“, blubberte claus in meinen armen.
„ wie sollte ich sie in dieser bar beschützen? hier hat, glaube ich, jeder ein motiv.“
ich blickte in die meute der betreten dreinblickenden umstehenden. ruprecht stand aschfahl zwischen ihnen.
„danke, mr. brasko“, hauchte claus, bevor er den löffel abgab. bis in alle ewigkeit.
ruprecht und ich bestiegen eilig den vorm eingang geparkten schlitten. während ruprecht startete, warf ich einen blick zurück auf die leuchtschrift, und ich las: „santa claus“.
„was wird nun aus weihnachten?“ fragte ich ruprecht.
„das war das letzte weihnachten“, sagte er bleich, „aber eigentlich ist weihnachten schon lange tot …“
„ja, das ist mein gedanke. es musste so kommen. jetzt gibt es nicht mal mehr den weihnachtsmann. warum vögelte er auch so willenlos durch die gegend?“
„mr. brasko, wo soll ich sie absetzen?“
„zuhause“, seufzte ich, „da wartet noch eine halbe flasche johnny walker auf mich.“

(02.04.2007)

Es war gestern und ist doch heute (27)

Der einarmige Billardspieler

Stolze Menschen ziehen mich an
Gestern Abend war es der
Einarmige Billardspieler
Das ganze Drumherum ist schuld an
Meinen Überlegungen
Man sollte alles auf das Wesentliche reduzieren
Die Poesie des Wesentlichen
Die Hände sind schweißig
Dein Lächeln entzückt mich
Aufrichtigkeit ist
Luftleer
Durchgezirkelte Räume und
Ordnungen befriedigen
Nicht
Die Überlegungen sind schuld
Das Gesicht brennt
Der Knochen Leben trägt dick auf



1990

Es war gestern und ist doch heute (26)

Es regnete Tag und Nacht. Die Blätter fielen zuhauf, abgerissen von schweren Tropfen und Hagel. Ein Wolkenheer in grauem Rüstzeug zog über das Land. In der Nacht donnerten und blitzen seine Geschütze in einer fernen, unwirklichen Schlacht. Am Morgen blies ein heftiger Wind. Viele Blätter waren gefallen und leuchteten rot und gelb in der Sonne. Immer wieder lösten sich neue und tanzten gen Boden. Dem Herbstwind gefiel das Spiel, und er rief die Sonne: „Komme hervor und lasse die Erde leuchten!“ Und die Strahlen der Sonne brachen durch die Wolken und fielen auf das nasse Laub. Das war eine Farbenpracht! Daneben der Alltag der Menschen und die Hektik der Stadt in gleichgültigem Grau. Und der Wind rief auch die Menschen, aber nur wenige hatten gefallen an dem Spiel. Der Wind war wie ein Kind, und auch die Sonne vergaß ihren mütterlichen Ernst. Die zwei scherzten – ei! – ein Hut machte sich davon, Papierbällchen strauchelten über das Pflaster, Blätter tanzten Ringelreih, bis sie schließlich irgendwo klebenblieben: unter dem Schuhabsatz eines Passanten, in einer Pfütze, zertreten, verrottend.
Dieses Spiel wiederholt sich jedes Jahr, jedes Jahr dieselben Zeichen der Vergänglichkeit im Rhythmus eines schlagenden Weltherzens. Das Leben ist kurz. Nur kurz wirbelt das Blatt durch die Luft, um dann eins zu werden mit der Erde, und macht sie fruchtbar.

(1985)

Es war gestern und ist doch heute (25)

Die Leber im Whiskeyglas

Ich saß mit Fauser an der Bar, während Henry seine Wette abgab.
„Was hältst du von ihm?“ fragte ich Jörg.
„Er ist besser als ich.“
„Ist er besser als Burroughs?“
„Er ist anders.“
Wir bestellten uns noch 2 Whiskey ohne Eis. L.A. war ein heißes Pflaster, das ich nur scheintot ertragen konnte.
Ich sagte: „Aber Ernest ist der beste von allen.“
„Sie waren alle gut. Mal mehr, mal weniger.“
„Stimmt.“ Wir stießen an.
„Auf die nächste Möse, die uns über den Weg läuft.“
„Yeah.“
„Yeah.“
Ich drehte mich um und betrachtete die Menschen, die wie Ameisen durcheinanderliefen.
„Hoffentlich platziert er eine gute Wette.“
„Hoffentlich überlebe ich heute“, sagte Jörg.
„Elsa mag ihn nicht“, sagte ich.
„Elsa?“
„Sie erinnert sich nur an Die Leber im Whiskeyglas.“
Jörg kippte seinen Whiskey hinunter.
„Ist Elsa ein Pferd?“
Ich schwieg. Jörg drehte sich einen Joint. Der Barkeeper war im Hinterzimmer verschwunden und holte sich einen runter. Henry kam vom Wettschalter zurück.
„Hello Boys.“
„Hi Henry.“
„Hallo Arschloch.“
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich euch Zombies hier treffe.“ Ich grinste so breit wie die Golden Gate Bridge. Henry war schon eine Weile tot, Jörg noch länger. Der Barkeeper knöpfte seine Hose zu und schaute uns fragend an.
„Three Whiskey please“, sagte ich, „Ähm, und schmeiß in Henrys bitte ein Stück Leber.“
„What?!“
Wir bekamen unsere 3 Whiskey. Henry platzierte seine nächste Wette. Elsa ging als letzte über die Ziellinie. Jörg und ich wetteten darum, bei wem von uns zuerst das Licht ausgehen würde.

27.08.2002

Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einem Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne dass ich weiß, warum ich an diesem Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin, und warum die kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist. Ich sehe überall nur Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom und wie einen Schatten einschließen, der nur einen unwiederbringlichen Augenblick lang dauert.

Blaise Pascal

Es war gestern und ist doch heute (24)

GRAU SAM

Eine belebte Einkaufsstraße – lang, breit und grau.
Der Gestank von frischem Teer vermischt sich mit dem Duft von frischen Brötchen.
Viele, viele Menschen laufen – hohe Absätze, breite, niedrige, breite, schmale klappern über den Gehsteig. Der Gehsteig ist grau.
Sockenhalter im Angebot, Geschirrspülautomaten besonders preisgünstig, Rauschmittel im Ausverkauf – Flugtickets ins Schlaraffenland.
In den Häusern am Rande der Straße werden deine Wünsche und Begierden erfüllt. Die Häuser sind grau.
Dort wohnt er, der Seelenverkäufer. Er verkauft dich – er fängt dich und dann verschachert er dich. Das ist sein Geschäft. Du siehst ihn nicht? Nein? Er ist heimtückisch. Er hat dich in der Gewalt, ohne dass du es bemerkst. Er begleitet dich seit deiner Geburt. Sein Name ist GRAU SAM.
Siehst du ihn jetzt? Es hat geregnet. Die Straße ist nass.

(1980)