I remember Frau M.

Als Frau M. 1995 zu uns kam, schaffte sie es noch vom Bett zum Waschbecken, wenn ich sie an die Hand nahm. Sie hatte eine frühe Alzheimer-Demenz und war erst 60. Auch ein paar Worte brachte sie noch zusammen. Es dauerte aber nicht sehr lange, und sie konnte quasi gar nichts mehr, nicht mal mehr Essen, ohne sich zu verschlucken. Sie erhielt eine Magensonde, und wir statteten ihr Bett mit einer Antidekubitus-Matratze aus. Wir holten sie täglich aus dem Bett, aber bald hatte sie in einem normalen Rollstuhl keinen Halt mehr. Die Kontrakturen nahmen zu. Also hievten wir sie in einen Sessel. Später bekam sie eine Rollstuhl-Spezialanfertigung, so dass wir sie auch mal auf die Stationsterrasse oder vors Haus schieben konnten. Frau M. musste oft abgesaugt werden. Der Schleim stieg manchmal so hoch, dass er ihr aus dem Mund lief. Sie schaffte es nicht, ihn selbst abzuhusten und aspirierte. Der Schleim geriet in ihre Luftröhre und Lunge, eine Aspirationspneumonie war die Folge. Ich werde niemals das Brummen des Absauge-Apparates und das Ansauggeräusch des Schlauches vergessen „chhhhchhhhchhh“. Frau M. stöhnte gequält und ihr Gesicht lief dunkelrot vor Anstrengung an. Sie tat uns unsagbar leid.
Die Jahre vergingen, ein Tag wie der andere für Frau M.. Sie hatte einen Sohn und eine Tochter, die ich nie bei uns sah. Wahrscheinlich ertrugen sie es nicht, ihre Mutter in diesem degenerierten Zustand zu sehen. Ab und zu bekam Frau M. Besuch von einer alten Schulfreundin. Sie erzählte uns, dass Frau M. früher gern reiste und sportlich war. Irgendwann kam auch die Schulfreundin nicht mehr. Ich fragte mich oft, in welcher Welt Frau M. wohl lebte. Ihr Blick war ins Nirgendwo gerichtet. Manchmal zuckte sie unwillkürlich. War sie entspannt, grunzte sie zufrieden.
Wenn ich aus einem längeren Urlaub zurückkehrte, galt eine meiner ersten Fragen dem Zustand Frau M.s. – warum hatte der liebe Gott nicht endlich ein Einsehen? … Als ich 2014 der Altenpflege den Rücken zukehrte, war Frau M. noch immer da.

48 Gedanken zu “I remember Frau M.

  1. Ich glaube, wäre Frau M. meine Mutter gewesen, hätte ich es auch nicht ertragen, ihr dabei zuzusehen, wie sie immer mehr verfällt. Ich weiß noch zu gut, was es mich für Kraft gekostet hat, meine Mutter knapp zwei Jahre beim Sterben zu begleiten. Das wünsche ich niemandem.
    Aus diesem Grund habe ich schon lange eine Patientenverfügung, aber auch diese schützt einen nicht generell vor lebensverlängerden Maßnahmen, wie ich leider bei einem Bekannten schon mitbekommen musste. Das ist ein schwieriges (Reiz-)Thema.

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  2. Nachdenklich frage ich mich, warum gerade diese Frau dir so sehr im Gedächtnis geblieben ist! Wie eine Art Lehrstück ist dieser dein Text, und gut so…mir sind ja auch von den vielen meiner Schüler ein paar wenige noch vor Sinnen und Augen, da überlege ich auch mal …

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  3. ich habe beide formulare, da ich annehme, im alter in d zu sein, patientenverfügung und vorsorgevollmacht. außerdem habe ich allen gesagt, dass ich keinesfalls wiederbelebt werden möchte, falls ich tot daliege. und ich weiß auch, ich kann im geistig wachen zustand daran arbeiten, ein ende zu finden im leben.

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  4. die Magensonde bekam sie weil sie keine Patientenverfügung hatte oder weil die Kinder das so wollten, weisst du das?
    Ich habe alle nötigen Papiere, doch ich denke ich muss das noch korrigieren. Mittlerweile möchte ich auch keine Bluttransfusion mehr. Ich möchte gar nichts, kein Antibiotika, niente.

    Verhungern ist kein schöner Tod, aber besser als das Leben der Frau M. im Heim. Meine Stiefmutter hungerte ca. 2 Wochen. In der Zeit ass sie ein halbes Erdbeereis. Ich holte es von der Tankstelle für sie. Irgendwann kommt dann der Punkt, an dem auch schlucken und somit trinken nicht mehr möglich ist. ich war sehr froh, dass ich Unterstützung von jemandem hatte, die im Hospiz arbeitet. Alleine wäre ich überfordert gewesen.

    Gestern beschloss ich auf keinen Fall in ein Heim zu gehen. Rechtzeitig giftige Kräuter anbauen und sich dann verabschieden, so möchte ich das.

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