Ich stand an der Seebrücke Wendorf und blickte versonnen aufs Meer. Vor mir lag die Wismarer Bucht. Es war verdammt kalt. Der Tag war trübe, aber da und dort schimmerte etwas Blau durch die Wolkendecke. Auf dem Wasser trieben Eisschollen und der Strand war weiß vom Schnee. Ab und zu kamen ein paar Spaziergänger vorbei. Manche gingen an mir vorbei auf die Seebrücke. Ich hatte gehofft, mich in einem Restaurant oder einem Café aufwärmen zu können. Aber hier gab es nichts dergleichen. Ein Hotel stand einsam an der abfallenden Küste und blickte wie ich stoisch hinaus auf die See, im Rücken Wendorf, eine kleine normale Ortschaft.
Der Weg von Wismar nach Wendorf führte mich vorbei an Schrebergärten, einer Kläranlage und dem Gelände einer Werft. Der Weg ging ein wenig auf und ab und war nicht ganz vom Schnee geräumt. Vorsicht war geboten auf meinem kleinen Fahrrad. Mir reichte die Erkältung, die mir zusetzte, ich brauchte nicht noch blaue Flecken und Schrammen von einem Sturz. Es waren etwa 5 Kilometer bis zur Seebrücke. Im Rucksack hatte ich ein paar Dosen Bier, als hätte ich es geahnt, dass ich erstmal nicht einkehren konnte.
So stand ich an der Seebrücke mit einer Dose Bier und machte mit meinem Smartphone einige Fotos von der Aussicht. Ich wollte mich schon auf den Rückweg machen, um nicht festzufrieren, als ein Mann neben mir stehen blieb. Er war etwa in meinem Alter und wollte sicher auch ein paar Fotos schießen, denn er trug eine richtige Kamera mit sich. Der winterliche Ausblick auf die Ostsee hatte was Magisches. Ich weiß nicht mehr, wie wir ins Gespräch kamen, wahrscheinlich über das Wetter. Jedenfalls wurde mir schnell klar, dass der Mann mehr zu erzählen hatte. Ich erfuhr, dass er an Krebs erkrankte und darum seinen Job im Hotelgewerbe aufgeben musste, dass er bereits ins Hospiz gehen wollte, aber es ihm überraschend wieder besser ging und der Krebs sich zumindest nicht weiter ausbreitete. Ich betrachtete den Mann, der mir gegenüberstand. Er sah nicht krank aus. Aber ich glaubte schon, dass er mir die Wahrheit erzählte. Er wusste gut Bescheid über Krebsbehandlungen. Das saugte er sich nicht aus den Fingern. Auch wirkte er in seinem Habitus relativ seriös. In der Regel vertraue ich meiner jahrelang in Kneipen und im Altenheim trainierten Spinner-Sensorik. Ich hörte noch die ein oder andere persönliche Geschichte aus seinem Munde: dass er in Argentinien aufwuchs, dass er lange in Berlin wohnte, dass er geschieden war, dass er sich um das Kind einer asozialen Nachbarin kümmerte… es jedenfalls versuchte. Mir wurde immer kälter. Warum offenbarte er mir, einem Fremden, dem er zufällig auf der Seebrücke Wendorf begegnete, seine halbe Lebensgeschichte? Der Mann hatte ganz schön was hinter sich. Er war mir weder besonders sympathisch noch unsympathisch. Schließlich verabschiedeten wir uns. Ich hätte es in der Kälte kaum länger ausgehalten. Er spazierte hin zum Ende der Seebrücke, und ich stieg auf mein kleines Fahrrad, das nicht weit von mir wartete.
Im Dunkeln erreichte ich durchgefroren die Pension. Es war der Tag, an dem ich 60 wurde. Während ich mich im Bett aufwärmte, fragte ich mich immer wieder, ob hinter dieser Begegnung ein tieferer Sinn steckte.

Seebrücke Wendorf, 16.12.2022
Sehr einfühlsam geschrieben!
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danke. ich bin ein gefühlvoller mensch.
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okay, ich lasse das „gefühlvoll“ weg und beschränke mich darauf, dass ich ein mensch bin.
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Mutet Richtung Hermann Hesse an, mich jedenfalls…und gefällt mir, gerade der Ausgang, das etwas unsichere Ende…
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am schwierigsten sind die dinge zu schreiben, die mir wirklich passierten – nicht mit zu vielen details zu befrachten und dabei das wesentliche herauszuarbeiten.
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und was meinst du, hatte die Begegnung einen tieferen Sinn?
Ich denke, man trifft im Leben, in bestimmten Situationen oder Zeiten immer die Menschen, die man braucht.
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schon möglich, aber ich kam nicht dahinter. solche begegnungen sind wie träume… man muss sie nicht unbedingt entschlüsseln. und hätte ich eine interpretation, würde ich sie für mich behalten.
wichtig war, dass ich diesem mann zuhörte, mir trotz kälte die zeit nahm.
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vielleicht war es eine prüfung.
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wer weiss. aber man muss auch nicht alles interpretieren. Prüfung hört sich gleich so negativ an.
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stimmt. ich hasse prüfungen.
man müsste wissen, was der mann über unsere begegnung dachte/denkt.
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Manchen Menschen geht es wirklich schlechter als einem selbst.
Das Leben spielt ihnen beständig übel zu und trotzdem halten sie Kopf oben.
Das erzählt mir der Hintergrund deiner Begegnung.
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ja, der mann wirkte hinsichtlich seiner schweren krebserkrankung sehr aufgeräumt. allerdings bedauerte er schon, dass er seinen job aufgeben musste; eigentlich hatte er vorgehabt, im rahmen seiner arbeit zurück nach argentinien zu gehen… nach dem, was er mir über seinen krebs erzählte, würde er normalerweise nicht mehr lange haben…
was in ihm wirklich vorging – wer kann das sagen.
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Es wird ja oft berichtet, dass es Todkranken Menschen kurz vor dem Ende noch einmal richtig gut geht. Ob etwas daran ist, weiß ich nicht. Es wäre zumindest eine Möglichkeit.
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wie ich es schrieb: er sah nicht gerade todkrank aus. und gut zu fuß war er auch noch. aber natürlich kann es bei einer solchen diagnose schnell gehen.
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