Auch diesen Freitag war Brandy-Harry zur Feierabendzeit im Pub. Wobei ich sagen muss, dass ich mal wieder früher in den Feierabend ging. Das Büro und die Hühner ätzen mich derzeit ziemlich an.
Harry hatte einen Bolzenschneider mittlerer Größe dabei, und er fragte Thorsten, der hinter der Theke arbeitete, ob Reinhard schon aufgetaucht sei. Just in diesem Moment erschien Reinhard im Pub. Die beiden waren verabredet. Reinhard brauchte den Bolzenschneider, weil er die Schlüssel zu seinem Fahrradschloss verloren hatte. Nun saßen wir zu dritt am Tisch und quatschten über dies und das. Reinhard, ein siebzigjähriger Alt-Achtundsechziger mit einer wilden Biografie fragte mich, ob ich zufällig mit Namen „Abraham“ hieße. Er kenne einen Architekten, der mir zum Verwechseln ähnlichsähe. „So was soll vorkommen bei 8 Milliarden Menschen auf der Erde“, antwortete ich ihm, „und das hast du mich schon mal gefragt, ist einige Zeit her, noch vor Corona. Wir saßen an der Bar.“ Reinhard musterte mich prüfend, als könne er es nicht glauben. „Wirklich eine täuschende Ähnlichkeit.“ Harry sagte nicht viel. Reinhard war eindeutig redseliger. Wie ältere Leute es gern tun, sprach er vergangene Erlebnisse aus seiner Sturm-und-Drang-Zeit an, die in seinem Kopf herumschwirrten, brach aber nach wenigen Sätzen mit einem tiefen Seufzer ab… „Lange her.“
„Die Welt ist heute eine andere“, sagte Harry und nippte an seinem Brandy.
„Schon, aber diese Ereignisse prägten mein Leben…“
Ich lauschte aufmerksam den Worten dieser beiden Kneipen-Fossile, die sicher ein abenteuerliches Leben hinter sich hatten und viel in der Welt herumgekommen waren. Diesbezüglich würde ich sie wahrscheinlich nicht mehr einholen.
Als Harry wie nebenbei erwähnte, dass er Prostata- und Bauchspeicheldrüsenkrebs habe, schwieg Reinhard erstmal perplex und fragte dann, ob Harry einen schlechten Scherz machte. Ich dagegen hatte ja bereits vermutet, dass es mit Harrys Gesundheit nicht zum Besten stand – seine ungesunde Gesichtsfarbe und die auffällige Gewichtsabnahme. Harry erzählte kurz, wie es zur Diagnose im Hedwigs-Krankenhaus gekommen war. Eine Zufallsdiagnose. Ein Armleuchter von Arzt fragte ihn, warum er so lange gewartet habe… „Als hätte ich das absichtlich gemacht. Man spürt doch erstmal nichts“, sagte Harry kopfschüttelnd. Wir fragten nicht weiter nach. „Reden wir lieber über etwas Erfreulicheres“, meinte Reinhard, und Harry sagte, dass es ihm soweit ganz gut ginge. Später wolle er Miesmuscheln essen gehen…
Das Knacken des Fahrradschlosses klappte mithilfe Harrys Bolzenschneider. Ging wie durch Butter. Nun müsse er sich ein neues Schloss für seinen alten Bock kaufen – Reinhard verabschiedete sich. „Nicht, dass dir ausgerechnet jetzt dein Fahrrad geklaut wird“, lachte ich.
Wenig später ging ich auch. Der Nachmittag war grau. Von draußen winkte ich noch mal Harry, und er winkte zurück.
Solche Begegnungen mit Worten einzufangen, gefällt mir. Zu dem ganzen Schnickschnack Schnösel Sinnlos Tussi Zeug, was man sonst so zum Lesen angeboten bekommt, eine Bereicherung.
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danke freni! von diesem schnickschnack-schnösel-sinnlos-tussi-zeug gibt es viel zu viel. ich wundere mich oft, wie viele likes die kriegen… im verhältnis zu texten mit tiefgründigeren inhalten – ein indiz dafür, wie flach/oberflächlich unsere gesellschaft in weiten teilen ist.
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Die Verlierer der oberflächlichen Gesellschaft sind die wahren Helden. Skurrile Typen, so sympathisch 😍
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sehe ich auch so. und im pub gibt`s davon einige.
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Ich weiß. Die Berliner Kneipen sind toll. Aber nicht die Szene Dinger Prenzlauer Berg. Da sitzen nur die Zugezogenen.
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da bin ich auch nicht, obwohl da die hübschen frauen rumsitzen. diese leute hast du inzwischen auch in teilen von kreuzberg, z.b. im bergmann-kiez. hier in schöneberg sind dagegen noch einige urgesteine zu sehen – an menschen und kneipen. alle werden die kack-corona-zeit leider nicht überleben.
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Hübsch liegt im Auge des Betrachters, deshalb finde ich, sitzen überall welche, man muss sie nur sehen wollen ☺️
Fahr mal in die Konditorei Buchwald. Da sitzt man wie bei Omi in der Wohnstube. Der Kuchen schmeckt, mir jedenfalls. Bier gibt es da auch 😉
Die Dicke Wirtin finde ich auch nicht schlecht, obwohl tourilastig. Da steht und hängt so viel altes Zeug rum, dass man beim Essen abgelenkt wird 🤣
Wo genau wohnst du?
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kurfürstenstraße ecke park am gleisdreieck.
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Ach da. Ich hab mal in der Joachim Karnatz Allee mitgewohnt. In der Schlange am Spreeufer.
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ach da. in dieser gegend wohnte meine ex, als ich sie damals in berlin besuchte.
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Schöne Gegend, gell? Vor allem wenn man eine Wohnung mit Blick zur Spree hat. An sich eine ruhige Gegend. Am Spreeufer ist da nicht viel los.
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na ja. ich mag lieber den potsekiez (also hier) mit seiner vielfältigkeit, seinen brennpunkten und seinem pulsierendem leben… zu ruhig muss es für mich nicht sein. ich bin nicht der spaziergänger-typ. (wobei es auch hier ruhige orte gibt, wo ich mich zurückziehen kann.)
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Ich mag die Kombi, ruhige Lage inmitten einer Großstadt. Wenn man Lust auf Wusel hat, geht man nur paar Meter um die Ecke.
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genau. so ist es hier auch, bloß andersherum: wenn ich lust auf ruhe habe, gehe ich einfach um die ecke, und ich bin entweder in meiner wohnhöhle oder z.b. im kleinen nelly-sachs-park – meist sehr entspannt dort, mal von den fixern im gebüsch abgesehen.
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Die Gegend im Regierungsviertel ist wie geleckt. In der Nähe vom Kanzleramt gibt es eine Brücke unter der Obdachlose gehaust haben. Ich habe nie verstanden, warum man die dort geduldet hat.
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mir liegen solche „geleckten“ gegenden nicht. viel zu spießig und angepasst.
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Ne, da ist es nicht spießig. Die wollen dort alle nur ihre Ruhe haben. Da ist jeder für sich und sich selbst genug 🤣
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wenn du meinst.
ich mag solche geordnet-sauberen verhältnisse nicht. darin entdecke ich die typisch deutsche spießigkeit. nicht, dass ich mir das chaos wünsche, aber mehr platz für kreativität und ungezwungenes leben – und das habe ich gern um mich.
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Ich auch.
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habe mich schon gewundert – würde sich sonst mit deiner aussage beißen „Die Verlierer der oberflächlichen Gesellschaft sind die wahren Helden. Skurrile Typen, so sympathisch“.
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… aber an diesen orten sitzen sie geballt.
natürlich sehe ich hier auch viele hübsche und schöne menschen, vor allem im park.
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hast du übrigens schön gesagt.
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😊
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Du wohnst in der Kurfürstenstraße – holla, da möchte ich nicht wohnen – oder ist es am letzten Ende?
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wie ich es schrieb, ecke park am gleisdreieck.
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Ist ja dann wirklich gleich um die Ecke bei Dir. Ich habe mir das mal näher angesehen (also virtuell). Toller Park!
Wir haben ja hier den Schäfersee nebenan, aber das Umfeld … da kannste wirklich nur im Hellen langlaufen, ansonsten absolut gefährlich.
Schönen Montagabend zu Dir.
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Ja, der Park ist okay, aber inzwischen im Sommer bei schönem Wetter zu voll, also mir zu voll.
Ich habe mich an den Potse-Kiez gewöhnt, und gut ist vor allem, dass ich es nicht weit zur Arbeit habe.
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Potse-Kiez. Potsdamer Straße nehme ich mal an. Da war ich das letzte Mal vor ca. 20 Jahren (dienstlich). Bissken grau – aber wenn Du da einen schönen Platz gefunden hast, ist es doch super. Da gehst Du in der Mittagspause hin oder nach der Arbeit? (Ja, ich weiß, ich bin überhaupt nicht neugierig).
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Details werden eh nicht verraten.
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So neugierig bin ich denn auch nicht.
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so so.
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