Wer ehrlich ist, lügt

Halb Berlin ist ständig alkoholisiert und/oder unter Drogen, vermute ich, – nicht weil ich von mir ausgehe. Ich schaue mich um und zähle eins und eins zusammen. Eine ganze Indizienkette zeigt sich mir. An jeder Hausecke oder Eingang stehen leere Bier- oder Schnapsflaschen und auf den Gehwegen und Straßen Scherben, so dass ich vom Pub bis nach Hause Slalom fahren muss…
Ein Grund, warum ich trinke: ich bin von der Welt traumatisiert. Nicht von den ganzen Trinkern. Nein. Sondern von denen, die vorgeben, nüchtern zu sein (- dabei das Leben lieben?)… Es ist nämlich keinesfalls so, dass die schlimmen Dinge immer von den Betrunkenen ausgehen. Man muss sich nur mal die Moslems ansehen, die per se nicht saufen dürfen. Ich kann bislang nicht entdecken, dass sie die besseren Mitmenschen sind. Ich meine jetzt nicht die ganzen Clans, Verbrecher und Extremisten – sind das überhaupt Moslems? Nein, ich meine die echten Gläubigen, die sich aber auch in einem fort kloppen. Z.B. im Nahen Osten. Gut, ich muss nicht alles verstehen. Auch darum trinke ich… – jedenfalls lieber, als dass ich an Gott oder sonst was religiös-ideologisches glaube.
Doch lassen wir das. Es hat einen guten Grund, warum man in Kneipen und auf der Arbeit besser nicht über Politik, Religion oder den Zustand der Gesellschaft redet. Das endet nämlich oft im Streit. Und hernach kann man sich nicht mehr leiden. Ist doch klar, dass es Mitmenschen gibt, die so gar nicht meiner Meinung sind. Dem ein oder anderen sehe ich es sofort an. Also, besser Schnauze halten oder blöde lachen. Noch ein Bier bestellen, und alles ist gut. Im Pub ist man mit Korn ganz vorn. Wer an der Theke zum Korn eingeladen wird, gehört dazu. Es gibt Tage, an denen ich mich diskriminiert fühle…
Egal. Ich bin autark und stark. Ich ruhe in mir. Wer offensichtlich Scheiße schwätzt, den klammer ich nicht gleich aus. Mein Herz ist groß. Vielleicht würde ich sogar Erdogan und Trump mögen, wenn wir uns in einer Kneipe träfen. Es käme auf einen Versuch an. Ich kann mir vorstellen, dass sie sehr umgängliche Typen sind, solange man sie beim Blödsinnlabern nicht unterbricht.
Als Sita gestern Nachmittag die Schicht übernahm, hatte ich bereits genug. Schließlich bin ich inzwischen (fast) ein alter Sack. Wenn man einen Menschen mit einer Jeans vergleicht, dann befinde ich mich in dem Übergangsstadium von verwaschen-sexy und ausgebeult-cool hin zu untragbar. Leider kann niemand diesen Verfall aufhalten. Immerhin: Im Gegensatz zu früheren Zeiten, weiß ich inzwischen, wann ich besser gehe. Dauerte lange genug, bis bei mir der Groschen fiel.
Nachdem ich mich von meinen Fans im Pub verabschiedet hatte, machte ich mein Brompton vom Verkehrsschild los, an welches ich es gekettet hatte (andere Möglichkeiten, sein Fahrrad zu sichern, gibt`s dort nicht), und radelte nach Hause… Ich war noch nicht weit gekommen, stand an der Ampel Ecke Potsdamer Straße/Kurfürstenstraße, wo mir der Gedanke kam, den ich im ersten Satz beschrieb. In meinem halbtrunkenen Zustand fand ich ihn erstaunlich gut – er hatte beinahe Erleuchtungscharakter -, und darum nahm ich mir vor, am nächsten Tag (also heute), daraus einen Blog-Beitrag zu entwickeln.
Vielen Dank fürs Lesen.

23 Gedanken zu “Wer ehrlich ist, lügt

  1. Wer nicht trinkt, der beginnt irgendwann damit, die Welt zu hassen. Wenn der Hass ihn aufzufressen beginnt, fängt er mit dem Trinken an (oder anderen Drogen). In einer Stadt wie Berlin, ist diesem Zusammenhang kaum zu entkommen – wird man doch permanent irgendwie angemenscht, selbst im Versuch des völligen sozialen Rückzugs. Deshalb bin ich aufs Land gezogen. Exil. In der Großstadt müsste ich wohl saufen (mit Whisky und Cognac wäre das sogar ganz nach meinem Geschmack). Weil meine Leber das nicht mehr mitmachen würde: Flucht aufs Land. Weniger Angemensche. 🙂

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    • im exil befinde ich mich auch in berlin… gewissermaßen. schließlich komme ich aus einer kleinstadt und aus dem ländlichen. dort war ich nicht anders gesellschafts- und systemkritisch unterwegs. die verlogenheit der spießer kommt dort z.b. viel plastischer anschaubarer hervor.
      es ist egal, wo ich lebe, an meiner einstellung ändert das nichts. auch nicht am saufen. ich kann mir nirgendwo was vormachen. schließlich hängt alles zusammen – oder nicht?
      hier in berlin mag ich die bandbreite der erscheinungen. das will ich momentan nicht missen. auch wenn`s mir oft zu aufdringlich ist. aber ich bin noch nicht satt davon…
      prost!

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      • Ja, stimmt: Dorfkern oder Kleinstadt wäre noch erheblich schlimmer, als Berlin – wegen fehlender Anonymität und Spießertum.
        Ich wohne hier zum Glück richtig „jwd“, außerhalb der Dorfstrukturen in einem kleinen „Mischgebiet“ (d.h. Wohnen, Bauernhöfe und Gewerbebetriebe bunt durcheinander – deshalb wohnt es sich hier auch sehr günstig). Die Leute in den drei, vier umliegenden Wohnhäusern sind allesamt dorffremd zugezogene Ex-Großstädter und sozial bunt gewürfelt: ne feine alte Dame lebt hier neben einer Öko-Großfamilie, neben einem deutschitalienischem Pärchen mit farbigem Kind, usw.. Funktioniert ganz gut und wenn man will, hat man auch seine Ruhe vor den anderen. Fühlt sich eher nach Kiez, als nach Dorf an. Das Gewerbe ist auch sehr bunt gemischt: reicht von Baufirmen bis zum horizontalen Gewerbe. 🙂

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      • wie gesagt: man kann überall gut leben, wenn das umfeld erträglich ist. momentan kann ich es in meinem kiez ganz gut aushalten. weil ich ein/zwei kneipen vor ort habe, wo ich ganz gern das ein oder andere bier trinken kann, weil ich mich meistens wohl fühle unter den menschen dort. es sind ja fast immer dieselben. und wenn man dann mal akzeptiert ist, kann man mitlachen und relaxen. nach der arbeit brauche ich diesen bereich, weil ich nicht gleich zurück in meine bude will, wo ich mich dummerweise scheiß einsam fühle.
        was aber in meinen augen wirklich für berlin spricht, ist die unmittelbare nähe von allem. ich habe keinen führerschein und kein auto. also bin ich auf den nahverkehr und auf mein fahrrad angewiesen. zudem habe ich das glück, das meine arbeitsstelle nur ca. einen kilometer von meiner wohnung entfernt liegt.
        das einzige, was mich in den letzten jahren emotional wirklich zerstörte und mir immer noch zu schaffen macht, ist, dass mich meine ex verließ und einen anderen bumst.

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  2. Übrigens wieder ein sehr schöner, sprachlich angenehm zu lesender und schön rund abgeschlossener Essay von Dir… Ich schleime heute mal volles Rohr, weil Deine Leser Dich im Allgemeinen zu wenig loben. 😉

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      • Opium ist ein Rausch- und Dämpfungemittel, dass sogar der Körper produziert, wenn er kurzzeitig unter starken Schmerz leidet. Opium benebelt den Geist und dann sieht man die Welt nur im Nebel und seine eigenen benebelten Bilder.
        So auch ein Gläubiger. Niemand hat seinen Gott bisher leibhaftig gesehen und trotzdem folgen sie seinen Vorgaben ohne ihre eigene innere Welt real zu erweitern. Ganz im Gegenteil. alles, was abweichend von ihrer Religion ist, wird als bedrohlich wahrgenommen.
        Mir fiel es sogar bei einen harmlosen Gespräch auf. Ohne zu wissen, dass mein Gegenüber gläubig war, machte ich ein Randbemerkung über den Glauben. Ich sah, dass meine Bemerkung nicht ankam und mein Gegenüber ungehalten wurde. Die Augen wurden größer. Mir war klar. ich halte mich besser zurück, damit ich nicht in einen Streit geraten würde.
        Wenn sich jemand über meine Spiritualität lustig macht, dann ist es so. Aber über religiöses Denken sich lustig machen? Ich glaube, das gibt Ärger.
        Achja.. Religion seit Opium für das Volk, stellte Karl Marx in seiner Religionskritik fest

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      • jo. dass das marx-dingens war, daran erinnere ich mich noch dunkel. war ja auch mal in der schule.
        vielleicht nahm marx opium, dass er diesen vergleich anstellen konnte.
        hast du schon mal opium konsumiert, lawe?
        ich nicht.
        ich müsste dann sowas sagen, wie: „religion ist wie alkohol fürs volk.“
        wo auf der welt wird denn opium geraucht? kommt das nicht von den chinesen? die welt ist von ganz anderen drogen bestimmt – und das war sicherlich schon zu marx-lebenszeit so. darum u.a. verstehe ich diesen satz, der seit jahrzehnten als tolle erkenntnis vermarktet wird, nicht.
        die religion hat rein gar nichts mit opium zu tun. auch nichts mit alkohol oder sonstigen drogen…. in meinen augen ist religion die kapitulation des verstandes, weil man menschlich von der welt überfordert ist und nach einem teddy für erwachsene sucht. und viele, sehr viele menschen sind damit zufrieden, wenn sie das nachbeten, was seit generationen duktus ist.

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      • Es geht dabei um die Wirkung eines Opiats im übertragenen Sinne. Ganz oben in der Kirche sind sie Mächtigen und sie betäuben das Volk mit ihrer Religion. Sie machen sich die Unwissenheit der Menschen zu nutze. Nicht umsonst durfte das einfache Volk sich nicht weiter bilden. Die Religion hielt die Menschen in Knechtschaft.
        Die Welt ist zu komplex, als dass man sie allumfassend begreifen kann. Mit unserem Verstand sie in ihrer Komplexität zu erfassen, sind wir zu beschränkt.

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      • Lawe, du musst mir das nicht erklären. Wer ist das einfache Volk. Die Menschen müssen ja alle Trottel sein, wenn sie sich von ein paar wenigen Mächtigen bestimmen lassen. Unmöglich. Der Spruch mit dem Opium fürs Volk kann diese Massen-Verblödung aus meiner Sicht nur sehr oberflächlich und unzureichend erklären.

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      • Heute ist es das Smartphone samt Facebook, was früher die Religion war – das Volk hält sich damit auch sehr gerne selber dumm. Das ist/war den Obrigkeiten (weltlich/religiös) natürlich ganz recht.

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  3. Karl Marx widerspreche ich nicht. Auch wenn ich seine „Kritik an die Religion“ nicht gelesen und schon gar nicht studiert habe. Bei Karl Marx schwirrt einen schon nach ein paar Sätzen der Kopf .:-)

    Ich denke, das die Menschen nach Idealen suchen und in der Religion glauben, diese gefunden zu haben. In den Hochburgen der Religion werden die meisten nicht mal Ausschau nach anderen Weltanschauungen machen.

    @ Hypermental…die meisten interessieren sich nicht für mehr und vertreiben ihre Langeweile mit Facebook und Co., Ich las mal in einem Buch: „Die meisten wollen nur grasen und überlassen deshalb dem Herdentier die Führung“ 😀

    LG Ostseemaus

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