Schuld

Das Wochenende gut begonnen, indem ich mir Finger- und Fußnägel schnitt. Ich mache das immer fein mit der Nagelschere und nicht mit einem Nagelknipser. Trotzdem fällt bei der Prozedur schon mal ein Nagel zu Boden. Wo ist der nur wieder hin? Mit meinem Adlerblick suche ich den Boden ab. Nichts zu sehen. Dann streiche ich mit der flachen Hand über den Boden… und hab ihn! Aber nicht immer. Manchmal muss ich die Suche aufgeben. Fingernagel vermisst, irgendwo in der unendlichen Weite vor oder unter dem Schreibtisch. Es ist wirklich so, dass es Dinge gibt, die einfach so verschwinden, nicht nur kleine Dinge wie Fingernägel, Schrauben oder Unterlegscheiben von Schrauben. Seit einem Jahr vermisse ich eine Haushaltschere. Ich zweifelte bereits an meinem Verstand.
Ich denke besser nicht weiter drüber nach, was auf nicht nachvollziehbare Weise schon alles aus meinem Leben verschwand. Es ist nicht so sehr der Verlust, der mich nachhaltig wurmt, sondern dass ich nicht hinter das Verschwinden komme. Wieso? Habe ich nicht aufgepasst? War`s meine Schuld?
Womit ich endlich beim Thema dieses Beitrags wäre: Schuld. Ein sehr schweres Thema. Ich spüre, wie ich mich innerlich verkrampfe, wenn ich drüber nachdenke. Schuld. Besser noch einen Drink nehmen, bevor ich weiterschreibe…

Jegliches Sein lädt per se Schuld auf sich. Das Sein steht immer in Konkurrenz zum ihm umgebenden Sein. Sein gegen Sein. Aktion und Reaktion. Alle tragen wir ein Riesenpaket Schuld auf unseren Schultern, stehen unter einem permanentem Rechtfertigungsdruck. Ausnutzen tun dies diejenigen, die an der Macht sind. Sie liefern uns scheinheilig die Absolution, nach der wir lechzen. Dafür wollen sie lediglich unsere Seelen. Ein guter Deal für Menschen, die von der Seele wenig Ahnung haben. Sie tappen arglos in die Falle. Weltweit zu sehen. Religionen und Ideologien entstehen. Menschen wie du und ich erklären sich zu Moralwächtern über die gesamte Menschheit. Wir generieren eine Hitparade der Schuld. Diejenigen mit den besten Entschuldigungen stehen dabei besser da als die Menschen, die zu ihrer Schuld stehen.
Keine Seele ist ohne Schuld. Die Schuld verbindet uns mehr als alles andere auf der Welt. Es ist töricht, vor ihr wegzulaufen. Funktioniert sowieso nicht. Freilich können wir eine Mauer der Ignoranz und Selbstlüge errichten. Aber die hat ihren Preis…

Eines Tages wird die Menschheit von der Erde verschwunden sein. Die Sonne macht ein Nickerchen, wacht auf, reibt sich die Augen und denkt verwundert: Wo sind denn die Menschen hin? Wo sind diese wunderlichen Geschöpfe auf dem Planeten Erde geblieben? Bin ich etwa daran schuld?

 

13 Gedanken zu “Schuld

  1. Sehr schön geschildert, das mit der Schuld. Schuld und Sühne sind die heimlichen, großen Motoren, die alles antreiben, jegliche Handlungen motivieren. Nicht Geist und Liebe – soweit ist die Menschheit noch nicht, wird sie nie sein… Hallo Sonne! ☀️

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  2. Schöner Eintrag. Der Mensch wird wohl, wie jede Art, früher oder später auch wieder aussterben. Bis dahin ist noch etwas Zeit, aber ich fürchte, sie werden es nicht auf die Reihe kriegen. Alles vermehrt sich, die Schlote schloten, die Wälder weichen den Straßen und den Schloten, die Meere ersaufen im Plastik. Lange geht das nicht mehr gut. Und jeder glaubt, sein Ismus ist die Lösung und die anderen sind alle doof. Und so zerreiben sie sich, schnattern in den Talkshows, und jeder hat recht und jeder ist wichtig und unersetzbar.
    Bei mir verschwinden auch Dinge. Ich suche verzweifelt meinen Nagel-Klipser. Einfach verschwunden, nicht mehr aufzufinden. Mysteriös.

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    • ah, du gehörst also zu der fraktion der nagelclipser… das lässt freilich weit blicken.
      aber ansonsten stimme ich dir zu. das geschnattere der menschen geht mir auch auf die nerven. sie sollten lieber mal ein gutes buch lesen oder auf unseren blogs vorbeischauen.

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  3. Das klingt alles so theoretisch, dass ich mich nicht direkt damit identifizieren kann. Vielleicht muss man es nur fühlen. Praktische Beispiele für die Behauptung „Keine Seele ist ohne Schuld. Die Schuld verbindet uns mehr als alles andere auf der Welt.“? Klingt so katholisch, nach „Erbsünde“.

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      • nichts. so viel wie ein baum mit einem auto zu tun hat. ein auto fährt an einem baum vorbei. oder ein auto wickelt sich um einen baum – aus liebe.

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    • bist du katholisch? das täte mir leid. ich wollte nicht deine gefühle verletzen. ich bin überzeugter atheist. trotzdem denke ich über begriffe wie schuld und seele nach. ich denke dabei eher an gene und meme. und ich denke an das mysterium des seins. aber scheiß drauf. wenn du das nicht verstehst, dann verstehst du es eben nicht. entschuldige die vehemenz meiner worte. ich bin einer dieser deppen, die nach der wahrheit suchen.
      theoretisch mag das alles klingen, aber es ist von meiner inneren wirklichkeit und meinen erfahrungen unterfüttert.

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      • Ich wollte nur sagen, dass Du mit dem Satz „Keine Seele ist ohne Schuld. Die Schuld verbindet uns mehr als alles andere auf der Welt.“ das gleiche machst wie die katholische Kirche, die von der Erbsünde spricht und den Menschen ein schlechtes Gewissen einredet.

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    • apropos: widersprüche können sehr belebend sein. ich versuche, mit meinen widersprüchen zu leben. ohne widersprüche könnte ich keine kunst machen. sie sind der taktstock unseres irrseins als mensch.
      aber freilich muss ich auch mit deinem widerspruch leben. ich habe nichts gegen dich, und natürlich wollte ich dich nicht verletzen. das mache ich absichtlich eigentlich nie, einen anderen verletzen. höchstens im eifer des gefechts.

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  4. ich sage hier, was ich zu einem thema fühle und denke. und ich meine, dass das SEIN per se nicht ohne schuld sein kann – zumindest in der bewusstheit seines seins.
    wohl denen, die sich keiner schuld bewusst sind. aber worum geht es dann beim menschen? um mehr oder weniger bewusst fühlende und denkende lebewesen? das alles kann man ganz ohne den hintergrund kirchlicher dingsbumse denken. ich stellte bewusst keinen bezug dazu her – nämlich erst, als ich die mächte erwähnte, welche unsere seelischen bedürfnisse schamlos ausnutzen.

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  5. ich kann widersprüche gut aushalten, solange ich mich vor ihnen nicht fürchten muss. und so sollte es doch sein, dass wir menschen auf dieser welt uns nicht voreinander fürchten müssen – aufgrund widersprüchlichen denkens, religionen oder ideologien. wenn wir also erkennen, dass wir trotz aller widersprüche untereinander dieselbe schuld des seienden tragen, dass wir also alle nur menschen wie du und ich sind, dann können wir uns möglicherweise ausuferungen wie kriege und terror sparen. sowas würde ich eine ambivalente zivilisierte welt nennen. sicher anstrengend, weil sie einen großen anspruch an unser geistiges und seelisches sein stellte. utopie? vielleicht. religös? nein! ich denke aber, dass ich ganz gut mit religiösen menschen auskommen kann, wenn sie nicht missionieren oder ihre religion als das absolute ansehen.

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